„Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elisabeth Russell ist ein Roman der angesichts der #MeToo-Debatte in die aktuelle Zeit passt, wie kaum ein anderer.
Manch einer wird glauben, dass dieser Roman tatsächlich so passiert wäre, aber die Autorin versichert bereits auf der ersten Seite, dass „Meine dunkle Vanessa“ ein fiktiver Roman ist, der von einigen realen Geschichten inspiriert wurde.
Bereits auf den ersten Seiten lernen wir eine junge Frau kennen, von der wir wissen, dass sie 32 Jahre alt sein muss. Teile der Geschichte, die sie zu erzählen hat, liegen 17 Jahre zurück. Sie heißt Vanessa Wyes, arbeitet in einem Hotel am Empfang und gibt sich größte Mühe, den Wünschen der Kunden zu entsprechen.
Worum geht’s bei „Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elisabeth Russell?
An diesem Tag ist Vanessa jedoch irgendwie nicht sie selbst, ständig ruft sie über ihr Smartphone das Social-Media-Profil einer anderen jungen Frau auf. Diese bezichtigt ihren ehemaligen Lehrer Jacob Strane des sexuellen Missbrauchs.
Der Mann ist Vanessa nur allzu vertraut, hatte sie doch selbst eine Beziehung zu ihm als sie 15 Jahre alt war. Dass Jacob Strane damals schon 42 und die Lehrer war, bedeutet ihr nichts, denn sie war glücklich in dieser Beziehung und er liebte sie.
Dieser Social Media Post einer ehemaligen Schülerin weckt alte Erinnerungen an ihre erste große Liebe und lässt Vanessa rückblickend einiges in Frage stellen. War ihrer Beziehung wirklich eine Beziehung oder nicht doch auch ein sexueller Übergriff an einer Schutzbefohlenen?
Schritt für Schritt beginnt sie damit ihre Beziehung von einst nicht nur zu hinterfragen, sondern aufzuarbeiten und muss schließlich sogar ihre eigene Vergangenheit in Frage stellen…
„Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elisabeth Russell: eine gegenwärtige Geschichte mit Vergangenheit
Während sie beginnt ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten, erleben wir ihre Geschichte in einer zweiten Zeitebene mit. Wir erleben das Kennenlernen des Lehrers Jacob Strane und seiner neuen Schülerin Vanessa, die noch relativ Neu auf dem Internat angekommen ist. Es ist der Beginn ihres zweiten Jahres dort. Tatsächlich handelt es sich um eine private Schule, von der Vanessa sich erhofft, es später am College leichter zu haben.
Für Vanessa vollkommen unerwartet, stellt dieser Schulwechsel sie vor einige Herausforderungen, denn strukturiertes Arbeiten hat die Jugendliche bis dahin nicht gelernt. Ihr Lehrer Jacob Strane versucht sie zu motivieren, beginnt aber auch recht schnell ihr unangemessene Komplimente zu machen, die einer Jugendlichen vielleicht nicht unbedingt zu denken geben, der erwachsenen Mutter, der sie davon erzählt aber schon.
Bereits bei diesem ersten Gespräch mit ihrer Mutter wird deutlich, dass die Beziehung zwischen dem Lehrer und der Schülerin eine geheime Geschichte sein wird. Die sie nicht nur ihren Eltern, sondern eigentlich vor ihrer gesamten Umgebung geheim halten wird.
Als Leserin dieser Geschichte frage ich mich natürlich, ob man diese vermeintliche Liebe dann tatsächlich als eine Beziehung im klassischen Sinne bezeichnen sollte. Natürlich werden auch Affären im Geheimen geführt. Doch Vanessa geht davon aus, dass es sich tatsächlich um ihre erste große Liebe handelt.
Mit dieser ersten großen Liebe möchte man schließlich Zeit verbringen und sich auch in der Öffentlichkeit zeigen. Zumindest normalerweise. Doch das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit, die sich im Verlaufe dieser Geschichte zeigen wird…
„Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elisabeth Russell: ein Debütroman voller Emotionen und Tiefgang
Während des Lesens der ersten Seiten nahm die Geschichte schnell Fahrt auf. Gerade was die emotionale Dichte anging, wurde ich als Leserin schnell an die Geschichte gefesselt. In Vanessa konnte man sich gleich gut hineinversetzen, in Jacob hingegen überhaupt nicht, vielmehr fragte man sich zu Beginn, ob ihm überhaupt bewusst war, welchen Schaden er mit seinem Wunsch nach einer derart jungen Geliebten anrichtete.
Die Mädchen, mit denen er Beziehungen einging, waren nie zuvor in einer Beziehung gewesen. Darüber hinaus war die Verbindung aus Schüler und Lehrer keinesfalls gleichwertig. Insgesamt war schon alleine diese Vorstellung schockierend. Denn mit knapp 28 Jahren Altersunterschied kann man als Leser durchaus auf den Gedanken kommen, dass sie, die Schülerin, ihm, dem Lehrer, irgendwie hörig ist.
Bevor ich mit diesem Buch begonnen habe, hätte ich vermutet, dass es ganz ähnlich ist wie „Das wirkliche Leben“ von Adeline Dieudonné. Schließlich geht es auch dort um eine Hörigkeit. Obwohl sich die beiden Geschichten natürlich grundlegend voneinander unterscheiden, gibt es gewisse Parallelen.
Die dargestellte Gewalt allerdings ist eine ganz andere, denn wo die Protagonistin im Buch von Adeline Dieudonné die Gewalt einordnen kann, weil sie körperlicher Natur ist, glaubt Vanessa in „Meine dunkle Vanessa“ an die große Liebe. Die Gewalt, die ihr angetan wurde ist eher seelischer oder auch psychischer Natur. Obwohl die Übergriffe natürlich auch körperlich waren.
„Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elisabeth Russell: sprachlich wortgewaltig, psychologisch düster
Mit einer beeindruckenden Tiefe erzählt Kate Elisabeth Russell die Geschichte rund um Vanessa und ihre vermeintliche Liebe zu Jacob Strane. Erst im Verlauf der Geschichte erkennt Vanessa, dass es mehr eine Form von Abhängigkeit, denn von echter Liebe war, die ihre erste Liebe prägten.
Mit der Erkenntnis der Zusammenhänge durchläuft Vanessa alle Gefühle, die andere Opfer von sexueller Belästigung wohl ebenfalls durchlaufen, Selbstzweifel, die Frage nach der eigenen Schuld und das Gefühl von Scham.
Noch ein Buch über Scham, aber dieses Mal muss es in eine ganz andere Richtung gehen, denn Vanessa ist eine moderne Frau, die nicht gewillt ist, ihre Opferrolle anzunehmen. Trotzdem oder gerade deshalb dieser Roman emotional und psychologisch sehr dicht und düster.
Wer sich hier auf einen locker leichten Liebesroman gefreut hatte, der täuscht sich, denn die Folgen dieser Beziehung sind auch Jahre später noch deutlich spürbar.
Kate Elisabeth Russell gelingt es Vanessas Wechselbad der Gefühle und auch den psychologischen Verlauf innerhalb ihres Romans durch eine starke und gleichzeitig fesselnde Sprache einzufangen. Dieses Buch ist keinesfalls leicht zu lesen und ganz sicher ist es kein Buch, dass jüngere Leserinnen lesen sollten, denn es setzt eine gewisse psychologische Stabilität voraus.
Das Drama einer nicht gestatteten und zudem übergriffigen Beziehung ist intensiv und genau deshalb nichts für junge Leser. Dafür ist es allerdings realistisch und trifft mit seiner Aussage im Kern Botschaft der #Metoo-Debatte: „Mach Dich nicht kleiner, als Du bist, Dich trägt keine Schuld!“
„Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elizabeth Russell: emotional anstrengend
Tatsächlich habe ich dieses Buch für emotional anstrengender gehalten als viele Bücher, die ich sonst über ein solches Thema gelesen habe. Schuld daran war aber weder der Schreibstil, noch die Geschichte selbst. Viel eher war es die Tatsache, dass es der Autorin gelungen ist, diese Geschichte überaus authentisch zu schreiben. So authentisch, dass man sich fragen muss, ob diese Geschichte nicht vielleicht doch auf eine Realität zurückzuführen wäre.
Gemeinsam mit Vanessa oder besser gesagt an ihrer Seite erleben wir das gesamte Drama mit. Als Leserinnen und Leser erleben wir die Geschichte dabei ebenfalls als eine Achterbahnfahrt der Gefühle, wobei sich in diese Achterbahnfahrt der Gefühle immer auch ein weiteres Gefühl mischte.
Das Gefühl des Unglaubens. Zum einen kann es kaum sein, dass diese Geschichte niemandem aufgefallen ist. Zum anderen hätte auch Vanessa selbst viel früher hinterfragen müssen, ob die Emotionen, die sie empfunden hat, real sind.
Diese etwas seltsame Form der Verdrängung scheint aber für Missbrauchsopfer eine Form des Selbstschutzes zu sein. Erst nach und nach beginnt sie selbst zu begreifen, was ihr damals, 17 Jahre zuvor eigentlich widerfahren ist.
„Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elizabeth Russell: ein Buch, das man möglicherweise mehrfach lesen muss
Als ich dieses Buch innerhalb kürzester Zeit zum ersten Mal gelesen habe, entfaltete „Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elizabeth Russell eine gewisse Form von Sogwirkung. Normalerweise freue ich mich darüber, wenn sich ein Buch gut lesen lässt und mich die Geschichte so fesselt, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen möchte.
In diesem Fall jedoch war das anders, denn die Sogwirkung entstand aus dem Gefühl heraus, zunächst nicht zu verstehen, was eigentlich das Nächste bedingt. Tatsächlich habe ich als Leserin das Gefühl, dass es der Autorin darum geht, uns die Geschichte Vanessas aus deren eigenen Augen heraus zu erzählen, sie aber doch nicht in der ersten Person zu erzählen.
Vielmehr zwingt uns Kate Elizabeth Russell dazu, die Geschichte an Vanessas Seite mitzuerleben, in dem Wissen, nicht eingreifen zu können. Wir können weder die Protagonistin packen, sie schütteln und ihr sagen, dass das, was ihr Lehrer da tut, nichts mit dem zu tun hat, was man klassischerweise und einer Beziehung versteht.
Auch Jacob Strane können wir schlecht erreichen, denn in der Rolle einer nicht handelnde Beobachterin haben wir nicht die Fähigkeit, diese Beziehung auffliegen zu lassen, der Idee dieses 42-jährigen somit ein Ende zu setzen. Letztendlich sind wir dazu verdammt, die Szenen zu beobachten, die sich zutragen, ohne eingreifen zu können.
„Meine dunkle Vanessa“: Der Schreibstil der Autorin Kate Elisabeth Russell
Der flüssige Schreibstil der Autorin Kate Elisabeth Russell macht es eigentlich leichter Geschichte zu folgen, doch die psychologische und emotionale Komponente ist es, die diesen Roman zu einem aufrüttelnden und emotional packenden Roman werden lassen, bei dem man gleichzeitig das Gefühl hat, ihn schnell wieder aus der Hand legen zu wollen, weil einen die Geschichte abstößt und gleichzeitig innehalten lässt.
Über die Autorin Kate Elisabeth Russell
„Kate Elizabeth Russell wurde in Maine geboren und hat an der University of Kansas promoviert. Sie schreibt für verschiedene Magazine, und eine ihrer Erzählungen wurde für den renommierten Pushcart Preis nominiert.
Ihr Debütroman »Meine dunkle Vanessa« stieg direkt nach Erscheinen in die Top Ten der New-York-Times-Bestsellerliste ein und wird von Kritikern wie Leserinnen heiß diskutiert. Das Buch erscheint in rund 25 Ländern. Kate Elizabeth Russell lebt in Madison, Wisconsin.“(Randomhouse)
Wer sollte „Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elisabeth Russell lesen?
Obwohl „Meine dunkle Vanessa“ die Geschichte einer Jugendlichen und später einer jungen Frau erzählt, ist dieses Buch kein Buch, das ich klassischer Weise dem Genre All-Age zuordnen würde. Vielmehr ist ein Buch, das eine emotionale Reife voraussetzt und sich daher eher an ältere Leserinnen und Leser richtet.
Es geht nicht darum, dass diese Leser abgehärtet sein müssen oder, dass sie emotional erkaltet sein sollen. Allerdings ist es nach meiner Betrachtung durchaus wichtig, dass sie selbst schon einen Punkt im Leben erreicht haben, der sie zu einer eigenen unabhängigen Meinung kommen lässt.
Bei diesem Roman ist es außerdem von einer großen Wichtigkeit, dass sich die Leserinnen oder Leser schon einmal selbst mit einer Beziehung beschäftigt haben und wissen, was diese ausmacht. Denn genau diese Erfahrungen helfen beim Verständnis dessen, was Vanessa widerfahren ist. Zwar liegen die Ereignisse 17 Jahre zurück, doch prägen sie Vanessas Gegenwart noch heute.
Fazit zu „Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elisabeth Russell
Sicherlich ist es falsch, zu sagen, dass ich die Art und Weise mochte, wie diese Geschichte erzählt wird. Es ist sicherlich auch nicht unbedingt richtig, zu sagen, dass mir die Intensität dieser Geschichte Freude bereitete.
Tatsächlich zwingt einen aber diese durchaus intensive Wahrnehmung der Geschichte mit in die Geschichte hinein zu tauchen und das ist an der Stelle ein besonderes Talent der Autorin.
Ich habe schon weiter oben im Rahmen dieser Rezension gesagt, dass diese Geschichte einen gleichzeitig anzieht und abstößt. Diese Tatsache möchte ich in diesem Fazit noch einmal unterstreichen, denn die Geschichte, die Kate Elizabeth Russell hier erzählt, hat weniger schöne Facetten, aber auch Facetten, die Hoffnung machen.
Als Leserin dieses Buches muss man jedoch alle Facetten dieser Geschichte miterleben, um dieses Buch tatsächlich als das zu erleben, was es ist: ein mitreißendes Werk, das alarmieren und wachrütteln möchte, um weitere Frauen davor zu bewahren, etwas ganz ähnliches zu erleben, wie jenes, was Vanessa erlebt hat.
Auch wenn diese Geschichte fiktiv ist, heißt dies nicht, dass ihre Geschichte nicht genauso gut die wahre Geschichte einer anderen Frau sein könnte, die sich ganz ähnlich zugetragen hat. Kate Elizabeth Russell selbst hat im Vorwort geschrieben, dass sie diese Geschichte frei erfunden hat, sich aber von Ereignissen und Berichten inspirieren ließ.
Meiner Meinung nach ist ihr dieses sehr gut gelungen. Man sollte allerdings nicht erwarten, dass dieser Roman ausschließlich einen unterhaltenden Wert besitzt. Vielmehr ist auch er ein Teil der sogenannten ernsthaften Literatur.
Stellt sich zuletzt die Frage, ob ich „Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elisabeth Russell empfehlen würde. Weiter oben habe ich bereits geschrieben, dass ich dieses Buch sicher nicht an jüngere Leserinnen richtet und für mich auch kein klassisches Buch ist, das man dem Genre All-Age zuordnen würde.
Es ist vielmehr ein Drama und genau dieses Genre sollte man kennen, wenn man dieses Buch lesen möchte. „Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elizabeth Russell besitzt eine Tiefe, die vor allem durch ihre emotionale Präsenz und durch das Gefühl der Ohnmacht entstehen.
Wenn man dieses aushalten kann, dann ist „Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elizabeth Russell ein Buch, das man unbedingt lesen sollte.
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