Mit „Echtzeitalter“ hat Tonio Schachinger den Roman des Jahres 2023 geschrieben und meine Neugier geweckt. Echtzeitalter“ ist ein Coming-of-Age-Roman, der die Jugend von Till Kokorda erzählt. Einerseits ist Till ein ganz normaler Jugendlicher, andererseits sticht er aus der Masse hervor.
Till besucht eine Elite-Schule in Wien. Er ist ein Externer, der dennoch viel Zeit dort verbringt, sich aber nie richtig in der Schulgemeinschaft aufgehoben fühlt. Sein Klassenlehrer Dolinar ist ein Despot, der vor allem in Leistung denkt. Mit seinen traditionellen Moralvorstellungen und seinem Schubladendenken macht er es den Schülern alles andere als leicht.
Diese scheinbare Willkür des Lehrers macht es den Schülern nicht leicht, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln, denn der Dolinar pflegt seine Erwartungen und Vorurteile und rückt auch in keiner Weise von seinen Positionen ab. Auf diese Weise glaubt er, die angehenden Anwälte, Mediziner und BWLer auf das echte Leben nach der Schule vorzubereiten. Seine Schüler jedoch sehen diese starren Prinzipien weniger als Lebenshilfe als vielmehr als eine Belastung an.
„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger: Ein Roman der Gegensätze
Genau genommen geht es bei diesem Roman jedoch nicht in erster Linie um Bildung und die Belastung durch die Schule, sondern eigentlich darum, seinen sozialen Status darzustellen und zu verfestigen. Die Schüler des Marianum sind in seinen Augen vor allem eins, reich und snobistisch, doch nach der Scheidung seiner Eltern ist er hier als Externer irgendwie gestrandet.
Die einzige Möglichkeit für Till, dieser für ihn unpassenden Welt zu entkommen, findet sich in der Welt des Gamings. Er flüchtet sich in die Welt von Age of Empire 2 und wird dort mehr und mehr zum Pro. In der Welt des Games ist er glücklich und erlangt mehr und mehr ELO-Punkte, wird schließlich zum jüngsten Top10-Spieler der Liga. Gleichzeitig empfindet er in der echten Welt kaum ein Gefühl von Zusammenhalt und Gemeinschaft.
„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger: Gaming als Thema im Roman
Als ich entdeckte, dass es in diesem Roman um das Thema Gaming geht, war ich verblüfft, denn das Thema Gaming kommt in der klassischen Literatur höchst selten vor, obwohl es eigentlich ein Sinnbild für Weltenflucht oder genauer gesagt Eskapismus darstellt.
Wer viel und häufig in die Welt des Gamings eintaucht, schafft es, das Gefühl zu haben, der Realität und den Problemen der echten Welt zu entfliehen. Gerade bei Jugendlichen kann dies zu einer Mediensucht führen oder aber auch dazu, dass sie sich angenommen und akzeptiert fühlen.
Die Welt des Gamings bietet viele Facetten und Tonio Schachinger ist es gelungen, diese Vielschichtigkeit darzustellen, ohne dass dieser Roman nur für Gamer interessant wäre. Ihm gelingt es mit diesem Roman eine Brücke zu schlagen, zwischen der Welt der Literatur, die in diesem Roman nicht zuletzt durch du Figur des Dolinars ebenfalls omnipräsent ist und jener Welt des Gamings, mit der sich auch Leserinnen und Leser identifizieren können, die sonst nur einen geringen Bezug zur Literatur und zum Lesen haben.
Man muss also festhalten, dass es dem Autor dieses Buches auf anschauliche Weise gelingt, ganz unterschiedliche Leser anzusprechen und gleichzeitig einen Roman zu schaffen, der zeigt, wie vielschichtig und divers unsere Gesellschaft mittlerweile ist. Ich persönlich mag die Art, wie der Autor mit seiner Art die Geschichte zu erzählen, zeigt, vor welche Herausforderungen und Probleme Jugendliche unserer heutigen Gesellschaft gestellt werden.
Ist Individualität ein Problem? Nein, eigentlich sollte man meinen, dass wir Menschen ausreichend Toleranz mitbringen, um die Vielseitigkeit und die vielseitigen Interessen, die Individualität jedes Einzelnen, sowie seine Stärken und Schwächen zu erkennen, zu akzeptieren und sogar zu stärken.
Letztlich ist es für mich genau jene Individualität, die unsere Gesellschaft stark macht und die doch immer öfter auch zu einem Problem wird, denn viele Menschen sind schlicht nicht in der Lage, zu begreifen, dass nicht nur die eigene Meinung und eigenen Motivationen dazu dienen, etwas im eigenen Leben zu bewirken.
Wertfrei, aber nicht unkritisch, zeigt der Autor dieses Romans, wie es für Till ist, sich immer wieder zwischen den Welten zu bewegen und sich doch letztlich auf die eine oder andere Weise in beiden Welten zurechtzufinden. Mit einer gewissen Dynamik zeichnet Tonio Schachinger hier eine Gesellschaft im Kleinen nach, die so auch für unsere echte Gesellschaft relevant ist.
„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger: Jugendliche, die sich ausprobieren
In einer Schulklasse kommen viele Kinder zusammen, die vor allem eines gemeinsam haben, das Alter. Dabei gibt es auch vieles, was sie trennt, die soziale Herkunft, Interessen, die Erfahrungen, die Zukunftsaussichten,…
In seinem Roman spielt Schachinger mit dem Konzept der Vielseitigkeit, indem er jedem Schüler seine eigene Identität verschafft, diese aber gleichzeitig durch eine Figur wie den Klassenlehrer Dolinar blockiert. Ich bin mir sicher, dass es genau diese Darstellung ist, mit der der Autor Gesellschaftskritik übt. Gleichzeitig gibt er den Identitäten der Jugendlichen ausreichend Raum, um zu zeigen, wie sie sich in ihrer Freizeit (von der sie dank Dolinar vergleichsweise wenig haben) ausprobieren und entwickeln.
Vielleicht ist dies der Grund, weshalb ich diesen Roman als einen Coming-of-Age-Roman erlebe. Es geht um Jugendliche und junge Erwachsene, die sich mit ihren eigenen Erfahrungen in ganz unterschiedliche eigene Persönlichkeiten entwickeln. Obwohl der Klassenlehrer Dolinar sie anleitet, als wären sie alle charakterlose Lemminge, geht gefühlt jeder am Ende des Romans seinen ganz eigenen höchst individuellen Weg.
Für mich impliziert das Genre des Coming-of-Age-Romans aber noch ein wenig mehr, denn ohne eine echte Kritik, wäre dieses Genre zwar authentisch, aber irgendwie unkommunikativ und wertfrei. Es kommt also noch etwas anderes hinzu. Die Besonderheit dieses Romans ergibt sich, durch seine stilistische Mischung, die ebenso vielschichtig ist, wie der Roman selbst.
„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger: Stilistisch fein changiert
Stilistisch bewegt sich Tonio Schachinger irgendwo zwischen spöttischer Distanz, Analyse und Einfühlsamkeit. Die Tatsache, dass er jeder Figur seinen höchst eigenen Charakter gibt, ermöglicht es ihm ebenso, um jede einzelne Figur seine ganz eigene Sprache in den Mund zu legen.
Auf diese Weise gewinnt dieser höchst ungewöhnliche Roman noch einmal ein Vielschichtigkeit und Tiefe. Es ist eine Geschichte, die im Wiener Alltag angesiedelt ist, die einerseits alltäglich und doch das Gegenteil davon ist. Diese Vielschichtigkeit wird durch eine stilistisch changierende Sprache noch einmal verstärkt und schließlich durch eine Art allwissenden Erzähler abgerundet, denn natürlich bleiben Kommentare, Vorausdeutungen und Rückblicke nicht aus.
Alles in allem erleben wir als Leserinnen und Leser also einen Roman, der einen trotz aller Alltäglichkeit in seinen Bann zieht, die man einerseits nicht aus der Hand legen kann, andererseits aber auch aus der Hand legen muss, um ihn selbst reflektieren zu können.
Nur wer diesen Roman reflektiert erlebt, schafft es, Ihnen Gänze zugreifen und tatsächlich braucht es meiner Meinung nach mehrere Durchgänge, um die ganzen Aspekte der Gesellschaftskritik und die feinfühlige Darstellung der Handlung in Gänze zu erfassen.
„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger: Gesellschaftskritik
De facto hätte ich zu Beginn nicht sagen können, woran der Autor dieses ungewöhnlichen und gleichzeitig faszinierenden Romans eigentlich Kritik gibt. Übt er Kritik an Lehrern, die in Schubladendenken? An Schülern, zu wenig an die eigene Zukunft denken? Oder ist es die Kritik am Freiheitsgefühl, sich in allzu starren Prinzipien und Vorgaben nicht entwickeln kann?
Mittlerweile bin ich mir jedoch fast sicher, Kritik an einer Gesellschaft, die in ihrer Art Schüler zu unterrichten zu wenig Freiheiten gewährt und sie gleichzeitig zwingend einen freien Geist zu entwickeln.
Meiner Ansicht nach dem Autor sehr gut gelungen, diese gefühlte Gegensätzlichkeit darzustellen und gleichzeitig aufzuzeigen, dass Reichtum nicht unbedingt dazu führen muss, dass jeder Erfolg hat. Erfolgreich wird, wer kreativ genug ist, trotz aller Vorgaben und Prinzipien letztlich seinen eigenen Weg zu finden und sich in seiner eigenen Individualität auszuleben.
„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger: Gefühlt kennt jeder einen Dolinar
Meiner Ansicht nach ist die Figur des Lehrers Dolinar in keiner Weise darauf ausgelegt, dass sie geliebt werden will. Vielmehr bündelt sich in dieser Figur aufrecht anschauliche Art der Hass, den die Schüler ihm seit vielen Generationen entgegenbringen. Wobei es ist kein Hass in dem Sinne, dass die Schüler gewalttätig gegen ihn vorgehen, sondern vielmehr eine Art von Distanziertheit, ein Desinteresse und ein über sich ergehen lassen.
Jeder von uns kennt vermutlich Menschen in seinem Alltag, mit denen man einfach nicht gut auskommt. Möglicherweise, wenn man die Prinzipien des Handelnden nicht versteht, die Autorität des Gegenübers anzweifelt, weil man ihn als inkompetent empfindet. All das zeichnet auch die Figur des Dollinars irgendwo aus und doch tut Dollinar auf seine Art das, was er selbst für das Beste hält, um seinen Schülern den Weg in ein gutes und etabliertes Leben zu ermöglichen.
Denken wir an unsere eigene Schulzeit zurück, so haben wir vielleicht Lehrer erlebt, mit denen wir sehr gut zurechtkamen und andere, mit denen wir nur wenig anfangen konnten. Jeder von uns würde nicht unbedingt bestätigen, dass wir despotische Lehrer hatten, und doch versteht jeder das Gefühl, welches Till in Bezug auf seinen Lehrer empfindet.
Engagierte und motivierte Lehrer, die ihre Sache mit Herzblut machen, erleben wir dabei auf ganz unterschiedliche Weise. Wer als Lehrer über das Ziel hinaus schießt und seinen Schülern mit einem Schubladendenken begegnet, hat es da sicher schwerer als solche, die eine gewisse Autorität ausstrahlen, in dem sie das fachliche Wissen motiviert und engagiert vermitteln.
Über den Autor Tonio Schachinger
„Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Nicht wie ihr, sein erster Roman, wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet, war für den Rauriser Literaturpreis nominiert und stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, den er 2023 für seinen zweiten Roman, Echtzeitalter, erhielt. Tonio Schachinger lebt in Wien.“ (Rowohlt)
Fazit zu „Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger
„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger ist ein besonderer Roman, der mich insbesondere aufgrund seiner Authentizität und seines Einfühlungsvermögen begeistert hat. Dieser Roman zeigt nämlich eines ganz klar, wie wichtig ist, dass der Autor über die Welten Bescheid weiß, über die er spricht.
Bei Tonio Schachinger, den ich bislang noch nicht als Autor kannte, dass er mich in eine Welt geführt hat, die ich bislang nicht unbedingt erlebt habe, denn die Welt der strategischen Gamings ist nicht unbedingt meine. Gleichwohl war aber deutlich zu erkennen, dass Schachinger selbst genau darüber Bescheid wusste, was er beschrieb.
Tatsächlich würde ich gerne weitere Bücher des Autors kennenlernen, weiß aber, dass es bislang nur einen früheren Roman gibt. Ich bin gespannt, ob sich das kommenden Monaten noch ändern wird.
Echtzeitalter
Mit "Echtzeitalter" hat Tonio Schachinger den Roman des Jahres 2023 geschrieben und meine Neugier geweckt. Echtzeitalter" ist ein Coming-of-Age-Roman, der die Jugend von Till Kokorda erzählt. Einerseits ist Till ein ganz normaler Jugendlicher, andererseits sticht er aus der Masse hervor.
URL: https://www.rowohlt.de/buch/tonio-schachinger-echtzeitalter-9783498003173
Autor: Marie Lanfermann
Autor: Tonio Schachinger
ISBN: 978-3-498-00317-3
Veröffentlichungsdatum: 2023-07-14
Format: https://schema.org/Hardcover
4.7
Vorteile
- Authentizität
- Einfühlungsvermögen
- Vielschichtigkeit
- Gesellschaftskritik
- Stilistische Vielfalt
Nachteile
- Hoher Anspruch
- Mehrdeutigkeit
- Erfordert reflektiertes Lesen
- Spezifisches Thema (Gaming) möglicherweise nicht für jeden geeignet
- Etwas eingeschränkte Zielgruppe