Als ich „Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin vorgestellt bekam, zögerte ich lange und überlegte, ob dieses Hörbuch zu Zeit und Stimmung passte. Das ist einige Monate her, das Hörbuch war gerade mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2022 ausgezeichnet worden und der Krieg Russlands gegen die Ukraine hatte bereits begonnen. Eigentlich sprach alles dafür, dieses Hörbuch nicht zu hören und es auch nicht vorzustellen.
Trotzdem weckte dieses Hörbuch, das in den 1990 Jahren spielt, mein Interesse. Mich interessierte Nastjas Geschichte, sodass ich dieses Hörbuch schließlich bestätigte. Allerdings mit der Idee, es erst hören zu wollen, wenn der russische Krieg gegen die Ukraine beendet wäre. Dieser Frieden trat bis heute nicht ein und trotzdem habe ich mich mittlerweile an „Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin heran gewagt.
„Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin: ein biografischer Roman
Der biografische Roman ist eine literarische Gattung, die Fiktion und Biografie verbindet, um die Geschichte realer Personen auf romanhafte Weise zu erzählen. Er verwendet fiktive Techniken, um Charaktere lebendig werden zu lassen und zielt darauf ab, nicht nur Fakten, sondern auch innere Gedanken und Gefühle einzufangen.
Biografische Romane sind umfassend recherchiert und nutzen Primärquellen wie Briefe, Tagebücher und historische Aufzeichnungen. Sie sind jedoch nicht auf strikte historische Genauigkeit beschränkt. Stattdessen bieten sie einen Einblick in das Leben einer Person zu einer bestimmten Zeit aus ihrer Perspektive.
Das Genre entwickelte sich im 18. Jahrhundert, gewann aber im 20. Jahrhundert an Popularität. Ein Beispiel für einen biografischen Roman, den ich euch bereits vorgestellt habe, ist „Coco Chanel: Paris der 1920er und das bewegte Leben einer Modeikone“ von Nadine Sieger . Romane dieser Art bieten nicht nur historische Fakten, sondern auch eine emotionale Verbindung zu den dargestellten Personen.
Trotz seiner Beliebtheit steht das Genre auch Kritik gegenüber. Ein Kritikpunkt ist, dass biografische Romane manchmal die Grenze zwischen Fakten und Fiktion verwischen und Fragen zur Genauigkeit und Authentizität aufwerfen.
Ein weiterer Kontroversenpunkt besteht darin, dass biografische Romane das Leben realer Personen ohne deren Zustimmung oder Mitwirkung zu Unterhaltungszwecken nutzen können. Einige argumentieren, dass dies respektlos gegenüber denjenigen ist, die diese Erfahrungen gemacht haben, und dass Details aus dem Leben einer Person möglicherweise ohne entsprechende Nennung oder Entschädigung verwendet werden.
Ein guter biografischer Roman fängt das Wesentliche des Themas ein, indem er ihre Handlungen, Gedanken und Emotionen darstellt und eine Balance zwischen Genauigkeit und künstlerischem Ausdruck findet. Der biografische Roman bleibt beliebt, da er Einblicke in die Geschichte und die menschliche Natur bietet und unsere angeborene Faszination für persönliche Geschichten anspricht.
„Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin: Rückblickend, distanziert
Da Natascha Wodin Nastjas Geschichte im Rückblick von mehr als 20 Jahren erzählt, könnte man auf die Idee kommen, sie erzähle diese Geschichte emotional distanziert und tatsächlich erscheint die Art, wie Natascha Wodin ihre gemeinsame Zeit mit Nastja beschreibt, reflektiert und einordnend.
Ist die Distanz, die ich als Leserin beim Hören des Hörbuchs wahrnehme also auf eine echte Distanz zurückzuführen, die durch die vergangene Zeit entstanden ist, geht sie auf die Reflektion der Ereignisse zurück oder ist sie bewusst durch Martina Gedeck als Sprecherin hervorgerufen?
Trotz einiger Überlegung komme ich hier zu keinem eindeutigen Ergebnis. Schließlich ist es nicht die Handlung, die ich als emotional distanziert empfinde, sondern die Art mit der mir die Ereignisse nähergebracht werden.
„Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin: berührend und bewegt
Nastjas Biografie selbst zeichnet sich durch eine tiefe innere Zerrissenheit aus. Sie lebt als Ukrainerin in einem Berlin der 1990er Jahre, kann sich aber zunächst nur schwer in eine westliche Lebensweise einfinden. Sie kommt mit den westlichen Werten nicht zurecht.
Als Hörerin fragt man sich unwillkürlich, warum sie, die zunächst illegal in Deutschland lebt, sich diese Missachtung der eigenen Werte antut. Die Antwort auf diese Frage ist so simpel, wie komplex. Sie hatte sich ein besseres Leben vorgestellt, das unter den gegebenen Umständen so nicht eintreten kann.
Macht sie sich an dieser Stelle etwas vor? Nun, möglicherweise ist sie sich nicht darüber bewusst, wie folgenschwer ihre Entscheidung war, nach Berlin zu kommen und wie aussichtslos ihr Leben hier würde. Sie hatte es sich so schön vorgestellt, doch stattessen wird ihre Lebenssituation mit jedem weiteren Tag schlechter und schwieriger.
Persönlich verstehe ich, warum man Kriegen, Krisen, Katastrophen und Hungersnöten flüchtet. Bei einer wirtschaftlich motivierten Flucht ist die Betrachtungsweise weniger eindeutig, da dieser Schritt nicht für jeden Geflüchteten eine Verbesserung dargestellt.
Wäre die Arbeitsmigration bei einer derartig motivierten Flucht der bessere Weg? In diesem Fall müsste sie bei ihrer Einreise eine sozialversicherungspflichtige Anstellung in Deutschland vorweisen und hätte zahlreiche bürokratische Hürden zu nehmen.
Gleichwohl hätte sie dieser Weg nicht zu einem Leben im Verborgenen oder Illegalen gezwungen, sondern ihr Möglichkeiten eröffnet, ihre Chancen auf ein gutes Leben in Berlin zu verbessern. Wer diesen biografischen Roman liest oder als Hörbuch hört, sollte aber wissen, dass „Nastjas Tränen“ in einer Zeit spielt, die nichts mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine zu tun hat. Die Geschichte trägt sich in den 1990er Jahren zu, also einige Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion.
„Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin: Stilistisch anspruchsvoll
Diesen biografischen Roman stilistisch einzuschätzen, fällt schwer, da ich nicht sicher sagen kann wie viel Hintergrundwissen benötigt wird, um „Nastjas Tränen“ lesen oder hören zu wollen. Fakt ist aber, dass es leichter sein dürfte, das Hörbuch zu hören, als den Roman zu lesen. Dieser Anhang begründe ich in der Tatsache, dass ich beim Hören das Gefühl hatte, jemand würde mir die Geschichte von Nastja und ihre Freundin Natascha erzählen.
Da der biografische Roman in dritten Person beschrieben ist, aber ab und an auch in der ersten Person kommentiert wird, könnte diese Person gut und gerne die Autorin selbst sein. Aber nicht hier das Hörbuch gelesen, sondern Martina Gedeck. Die Leseleistung dieser Sprecherin war authentisch und wäre nur durch die Autorin selbst zu übertreffen gewesen. Mir persönlich hat die Art und Weise wie dieses Hörbuch gelesen wurde ausgesprochen gut gefallen.
Stilistisch anspruchsvoll ist es dennoch geblieben, schließlich begeben wir uns als Hörerinnen oder Leserinnen dieser Geschichte auf die Spuren einer Freundschaft hinein in Welten, die viele von uns vermutlich selbst nicht kennen.
Verliert dieses Buch also seinen Anspruch, wenn es von Menschen gelesen wird, die eine ähnliche Situation durchlaufen haben? Nein, das glaube ich nicht. Vielmehr glaube ich, dass dieses Buch auf ganz unterschiedliche Weise gelesen werden könnte und jeder, der dieses Buch liest oder hört, ganz andere Aspekte dieser Geschichte betrachtet.
Vom Reiz des Hörbuchs
Bereits im vorangegangenen Abschnitt war ich darauf eingegangen, dass sich die Wahrnehmung der Geschichte im Hörbuch leichter gestaltet. Meiner Ansicht nach besteht der Reiz noch in einem weiteren Punkt.
Das Hörbuch verhält sich im Vergleich zum Buch so, als würde Martina Gedeck die Geschichte von Natascha und Nastja der Hörerin oder dem Hörer erzählen, als wären diese gute Freunde, die gefragt hätten: „Sag mal, wie war das damals mit Nastja?“
Die Antwort ist nicht nur authentisch, sondern auch einfühlsam und somit absolut nahbar, trotz aller Distanz. Die Distanz selbst entsteht über die Zeit und für die Reflektiertheit, welche die Autorin bewusst oder unbewusst hat einfließen lassen. All das macht „Nastjas Tränen“ zu einer recht vielschichtigen und komplexen Geschichte, die man zwar gut hören oder lesen kann, die aber alles andere als leicht ist.
Über die Autorin Natascha Wodin
„Natascha Wodin, 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Auf ihr Romandebüt „Die gläserne Stadt“, das 1983 erschien, folgten etliche Veröffentlichungen, darunter die Romane „Nachtgeschwister“ und „Irgendwo in diesem Dunkel“.
Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Brüder-Grimm-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, für „Sie kam aus Mariupol“ wurde ihr der Alfred-Döblin-Preis, der Preis der Leipziger Buchmesse und der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil 2019 verliehen. 2022 wurde sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Natascha Wodin lebt in Berlin und Mecklenburg.“(Rowohlt Verlag)
Über die Sprecherin Martina Gedeck
„Martina Gedeck ist Charakterdarstellerin und internationaler Filmstar. Sie drehte u.a. mit Robert De Niro und Bille August und war in dem oscarprämierten Film „Das Leben der Anderen“ zu sehen. Als Hörbuchsprecherin besticht sie durch Ausdruckstiefe und erzählerisches Feingefühl.“ (Argon Verlag)
Fazit zu „Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin
Meiner Meinung nach ist „Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin alles andere als ein Unterhaltungsroman. Er ist weder leicht zu lesen (oder zu hören), noch bietet er Entspannung und Unterhaltung. Es ist eine Geschichte, die sagt: „Das habe ich erlebt!“ Vielleicht stellt die Frage, ob man selbst ähnlich gehandelt hätte.
Das wiederum muss jeder für sich selbst beantworten und ich bin mir nicht sicher, ob die Antwort auf diese Frage einheitlich wäre. Mir persönlich fiel es nicht leicht, dieses Hörbuch zu hören. Trotzdem habe ich mich bewusst dafür entschieden, da ich mehr über die Kultur erfahren wollte.
Ohne zuletzt Detail zu gehen, kann ich sagen, dass in dieser Geschichte zwei Welten aufeinandertreffen, die eigentlich in gewissen Bereichen unvereinbar scheinen. Letztlich versteht man nach diesem habe gewisse Konflikte besser, aber eine Sache versteht man nach wie vor nicht: welche emotionale Zwangslage Menschen in derartige Situationen bringen.
Ich verstehe, dass man flüchtet, wenn das Leben bedroht ist. Auch das Leben seiner Liebsten schützen, aber trotzdem sollte man eine andere Motivation einbringen, als ein wirtschaftliche, wenn man aus einem Land in ein anderes und somit in manchen Fällen in eine Illegalität flüchtet.
Gleichzeitig ermöglichten der biografische Roman eine Art Zeitreise in eine Zeit, die ganz anders war als unsere heutige und doch eigentlich nur 30 Jahre zurückliegt. Alles in allem komme ich also zu dem Ergebnis, dass „Nastjas Tränen“ eine Geschichte ist, die ich jedem empfehlen möchte, entweder als Buch oder als Hörbuch. Gleichzeitig ist eine Geschichte, die nicht jeder für sich hinsetzen kann, da man eine gewisse Verbindung zur Thematik benötigt, um wirklich in diese Romanbiografie einsteigen zu können. Das jedoch ist meiner Meinung nach bei jedem Thema der Fall.
"Nastjas Tränen" von Natascha Wodin
Als ich "Nastjas Tränen" von Natascha Wodin vorgestellt bekam, zögerte ich lange und überlegte, ob dieses Hörbuch zu Zeit und Stimmung passte. Das ist einige Monate her, das Hörbuch war gerade mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2022 ausgezeichnet worden und der Krieg Russlands gegen die Ukraine hatte bereits begonnen. Eigentlich sprach alles dafür, dieses Hörbuch nicht zu hören und es auch nicht vorzustellen.
URL: https://www.rowohlt.de/buch/natascha-wodin-nastjas-traenen-9783499006999
Autor: Marie Lanfermann
Name: Nastjas Tränen
URL: https://www.rowohlt.de/buch/natascha-wodin-nastjas-traenen-9783499006999
Autor: Natascha Wodin
ISBN: 978-3-499-00699-9
Veröffentlichungsdatum: 2023-02-14
Format: https://schema.org/Paperback
Name: Nastjas Tränen
URL: https://www.argon-verlag.de/hoerbuch/natascha-wodin-nastjas-traenen-9783839819197
Autor: Natascha Wodin; Martina Gedeck
ISBN: 978-3-8398-1919-7
Veröffentlichungsdatum: 2021/08/25
Format: https://schema.org/AudioBook
4.6
Vorteile
- tiefgründige Biografie
- authentische Geschichte
- gut gelesen
Nachteile
- komplex