Mit „Woman in Cabin 10“ von Ruth Ware habe ich kurz vor dem Jahreswechsel begonnen. Versprochen hatte ich mir einen guten Krimi, der in seinen Motiven an Agatha Christie erinnern würde.
Die Anspielung auf Agatha Christie hatte mich schon neugierig gemacht, als ich das erste Mal von diesem Buch hörte. Mit dieser Erwartung startete ich also mit diesem ungewöhnlichen Krimi und stellte jäh fest, dass dieser Krimi über das Erwartete hinausgeht.
Spiel zwischen Wahn und Wirklichkeit
Lo Blacklock arbeitet in der Redaktion eines Lifestyle-Magazines. Als dem Magazin eine Pressereise angeboten wird, muss Los Chefin aus gesundheitlichen Gründen Abstand nehmen. Lo, die jedoch in Folge eines Einbruchs psychisch angeschlagen ist, vertritt ihre Chefin. Sie tritt die Kreuzfahrt an. Es handelt sich um die Jungfernfahrt einer Luxusjacht. Jeder Passagier erhält auf der Jacht seine eigene Kabine. Zunächst kommt Lo diese Reise wie ein Traum vor. Doch dann wird diese Reise zu ihrem persönlichen Albtraum, denn Lo Blacklock hört mit an, wie in der Nachbarkabine eine Frau ermordet wird und entdeckt auch Blutspuren, die ihre Beobachtungen bestätigen. Doch niemand glaubt ihr und die vermeintlichen Spuren werden verharmlost. Dann schwebt Lo plötzlich selbst in tödlicher Gefahr.
Perspektiven und fehlende Einblicke
Diese Geschichte erlebt der Leser aus der ich-Perspektive von Lo Blacklock mit. Diese Tatsache macht die Geschichte eindimensionaler, begrenzter, als man dieses zunächst erwarten würde. Allerdings ist es genau dieses Eindimensionale, das die Geschichte zu dem macht, was sie ist. Es ist ein Krimi, bei dem man zu Beginn nicht weiß, wie er am Ende ausgehen wird, aber ohne dessen Ende man auch mit dem Anfang nur wenig anfangen kann. Das macht aus dieser eigentlich spannenden und interessanten Kreuzfahrt etwas, bei dem man Probleme hat, die Geschichte in mehreren Etappen zu lesen.
Denn wer dieses Buch einmal in die Hand nimmt, legt es so schnell nicht wieder weg und wenn doch, sollte der Leser es zeitnah wieder zur Hand nehmen. Dieses Buch ist also so etwas wie ein Pageturner, ein Buch, bei dem einem die Seiten durch die Finger hindurchrinnen und das dennoch nicht so einfach zu lesen ist, wie man es von seinem Pageturner erwarten würde. Bei diesem Buch ist es nämlich so, dass man es am besten in einem Rutsch durchlesen müsste. Aber welcher Leser hat heutzutage schon die Zeit diesen Plan in die Realität umzusetzen?
Perspektivisches Streugut
Wer also an dieser Stelle nun glaubt, dass die gesamte Geschichte aus Los Perspektive erzählt wird, der liegt einerseits richtig, andererseits gibt es aber auch so etwas wie ein perspektivisches Streugut. Gemeint sind hierbei kleinere Szenen und Artikel, die aus anderen Perspektiven erzählt worden sind. Da sich diese Perspektiven jedoch nicht auf dem Schiff befinden, sondern stattdessen darstellen, welche Qualen Los Freunde und Verwandte durchleben, gewinnt das Buch einerseits an Spannung, andererseits macht es die Geschichte aber auch komplexer, denn nur wer die gesamte Geschichte kennt, kann mit den Einzelteilen das überaus umfangreiche Bild zusammensetzen, welches sich aus den Einzelteilen ergibt.
Spannungsgeladene Achterbahnfahrt
Bei diesem Buch handelt es sich genau genommen um eine Achterbahnfahrt, wenn man sich das Spannungsgefüge anschaut, denn die Geschichte selbst beginnt überaus spannend, verliert dann jedoch ein wenig an Spannung und steigert sich schließlich wieder deutlich.
Die hier beschriebene Achterbahn ist bei genauerer Betrachtung ein wenig parabelförmig. Auch das steigert den Anspruch des Buches, tut der Spannung jedoch nicht gut. Dieser Krimi ist anders als die meisten Krimis, die ich bislang gelesen habe. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der ungewöhnlichen Perspektive liegt oder der Gesamtsituation geschuldet ist. Unterstützt wird diese ungewöhnliche Darstellungsform innerhalb des Krimis nämlich auch noch durch den Stil, indem Ruth Ware ihre Geschichte erzählt.
Stilistisch ein heißes Pflaster
Wie bereits angesprochen, ist die Geschichte aus der ich-Perspektive erzählt worden. Es handelt sich hierbei um die Perspektive von der Protagonistin, die die Geschichte durchlebt. Dadurch haben wir das Gefühl und den Eindruck, als seien wir ständig an ihrer Seite, erleben jedoch auch nur das, was die Protagonistin im Buch selbst erlebte.
Dieser enge und begrenzte Rahmen lässt uns selbst die Emotionen der Protagonistin miterleben und nachfühlen. Es ist eine einengende, beklemmende und gleichermaßen beängstigende Situation, die durch die Emotion der Protagonistin einerseits verursacht sind, andererseits aber auch durch die gekonnte Darstellung der Atmosphäre durch die Autorin.
Obwohl dieses Buch vergleichsweise unblutig ist, ist es gleichzeitig nichts für schwache Nerven. Ruth Ware versteht sich auf die Darstellung psychologischer Krisen und ebenfalls auf das Verschwimmen der Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit. Man ist sich als Leser zu keiner Zeit sicher darüber, ob die Protagonistin überhaupt noch zurechnungsfähig ist, ob das Ganze nicht vielleicht eher ein Traum ist. All das hätte man sich eher vorstellen können, als das Ende, für das sich Ware entschieden hat.
Dabei ist das Ende keinesfalls erwartbar oder nicht plausibel. Es ist genau das Ende, dass die Geschichte braucht, um sich wieder mit dem Leser zu versöhnen, denn die Geschichte ist eines ganz sicher nicht, ein Thriller, den man zu Unterhaltungszwecken mal eben nebenbei lesen kann. Dieser Thriller füllt ein ganzes Wochenende und fordert seine Leser heraus.
Fesselnd und gleichermaßen von sich schleudernd
Während ich dieses Buch gelesen habe, war ich mehrfach kurz davor es einfach aus der Hand zu legen, es zu vergessen und aus dieser von Ruth Ware dargestellten Wirklichkeit zu flüchten. Dieses Buch fordert nämlich die Kraft, die Energie und irgendwo auch die Emotion eines jeden Lesers. Oder anders gesagt: Es fordert die volle Aufmerksamkeit jedes Lesers.
Persönlich bin ich mir nicht sicher, ob ich dieses Buch wirklich als fesselnd beschreiben kann, denn es ist ganz anders, als ich es mir zunächst vorgestellt hatte. Ja, es gibt tatsächlich einige Punkte, die mich an Agatha Christie denken lassen, doch ist Agatha Christie, was das Spannungskonzept angeht, nicht nur modernisiert worden.
Ruth Ware ist in der Darstellung und der Handlung auf eine sehr viel psychologischere Ebene ausgewichen, als Agatha Christie dieses konnte, und auch wenn Ruth Ware durchaus mit Agatha Christie verglichen wurde, so sehe ich diesen Vergleich durchaus kritisch.
Es sind meiner Meinung nach zwar vergleichbare Motive, Orient Express gegenüber Kreuzfahrtyacht, aber dennoch zwei unterschiedliche Erzählstrategien, unterschiedliche Motivationen und Darstellungsformen. Sicherlich ist es hier auch die Perspektive, die den Hauptunterschied macht. Würde man „Mord im Orient-Express“ aus der ich- Perspektive heraus erzählen, die Geschichte selbst mit mehreren Opfern und einer komplexeren Täteranlage ausstatten, so käme man vielleicht in die Nähe dessen, was uns hier von Ruth Ware präsentiert wurde. Dennoch würde ich behaupten, dass diese Geschichte oder besser gesagt diese beiden Geschichten – von zwei verschiedenen Autorinnen – nicht miteinander verglichen werden können. Obwohl sie Parallelen aufweisen, sind sie doch zu verschieden und nicht vergleichbar.
Über die Autorin Ruth Ware
»Ruth Ware wuchs im südenglischen Lewes auf und lebte nach ihrem Studium an der Manchester University eine Zeit lang in Paris. Sie hat als Kellnerin, Buchhändlerin, Englischlehrerin und Pressereferentin für einen großen Verlag gearbeitet und wohnt jetzt mit ihrer Familie in Nordlondon.« (Autorenbiografie)
Fazit
Dieses Buch ist definitiv ein Psychothriller, der seinesgleichen sucht, der jedoch mit nichts vergleichbar ist, was ich bislang gelesen habe, auch wenn er sicherlich aufgrund seiner Motivlage auf eine Ähnlichkeit mit Agatha Christie hofft. Genau diese Vergleichbarkeit sehe ich aber nicht, denn wo Agatha Christie einfach nur unterhalten will, fordert „Woman in Cabin 10″ von Ruth Ware seine Leser heraus. Dieser Thriller ist hoch anspruchsvoll, weist fesselnde Elemente auf und sollte dennoch nur zur Hand genommen werden, wenn man mehr erwartet als bloße Unterhaltung. Die Erwartung an den Leser ist jedoch auch, dass er sich Zeit für dieses nimmt.
Dieses Buch gehört für mich zu jenen Büchern, die nicht von jedem gelesen werden können und sollten. Es ist ein Buch, das ein flexibles Denken fordert. Dieses Buch lädt den Leser ein, „Was wäre wenn …“ zu spielen, ohne dass die Optionen zu Beginn vorgestellt worden wären.
Rena
Hallo Marie,
ich finde es sehr spannend wie unsere Meinungen da auseinander gehen. Mich konnte „Woman in Cabin 10“ nämlich irgendwie so gar nicht fesseln. Dabei hätte ich es wegen der vielen positiven Stimmen wirklich gerne gemocht.
Viele Grüße, Rena
Marie
Hallo Rena,
dieses Buch ist speziell, zugegeben. Ich hatte es mir auch völlig anders vorgestellt. Allerdings fand ich, dass der Spannungsbogen immer zumindest deutlich war. Ich persönlich fand es sehr strapazierend und deshalb nicht unbedingt für abends geeignet oder für den Alltag. Deshalb gab es auch von mir nur 3 Sterne.
Liebe Grüße, Marie