„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger ist ein Roman, der innerhalb kurzer Zeit gelesen werden kann und der einen auch noch einige Zeit danach fesselt. Dabei ist es weniger die reine Handlung, die mich als Leserin in ihren Bann zieht, sondern eher die Atmosphäre oder das Gefühl, das beim Lesen erzeugt wird.
Die Stimmung ist düster und bewegt sich zwischen fiktiver Realität und Traumwelt. Die Protagonistin bleibt für den Leser ein wenig undurchsichtig. Zu Beginn wissen wir lediglich, dass es sich um eine trauernde Frau handelt, die von weither gekommen ist, um an der Trauerfeier für ihren früheren Lebenspartner teilzunehmen.
Orion ist gestorben, doch die Menschen im Ort in der Lombardei feiern Fastnacht. In Kostümen laufen sie durch den Ort. Einige von ihnen haben sich schön fertig gemacht, doch es gibt auch die hässlichen.
Die Protagonistin, die wir nie mit Namen kennen lernen, nimmt ihr Nachtquartier in einem Haus ein, das sie schon seit vielen Jahren kennt, eine Gaststätte, die derzeit leider geschlossen hat. Doch der Gartensaal ist geöffnet und so findet sie für eine Nacht ein Quartier, das akzeptabel ist. Am nächsten Tag wird Orion beigesetzt.
Doch die Nacht, die die Frau im Gartensaal verbringen wird, wird keine ruhige und entspannte Nacht sein, sondern eine Nacht zwischen Nachtwache, unruhigen Schlaf und Schlaf.
Während ihrer ruhelosen Phasen beobachtet sie immer wieder die düsteren Figuren der Fastnacht.
„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger: Ein einsames Kammerspiel
„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger erscheint anfangs wie das einsame Stück einer einzelnen Figur. Und ja, es bleibt das einsame Stück einer Einzelfigur, wobei sie durch Erinnerungen an Orion und ihre Zeit im Dorf doch immer wieder mit anderen Menschen konfrontiert wird.
Dieses Kammerspiel trägt letztlich dazu bei, dass ich als Leserin der Geschichte in eine Welt eintauchen darf, die irgendwo zwischen Wachsein und dem Bewusstsein und dem träumerischen und alptraumhaften Unterbewusstsein liegt. Die Protagonistin, die wir nie greifbarer erleben, bewegt sich zwischen diesen Welten hin und her, sodass ich als Leserin schnell das Gefühl habe, mit ihr zwischen diesen Welten zu wandeln.
„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger: eine komplexe Szene, die sich letztlich nur über wenige Stunden bewegt
Das Kammerspiel „Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger besteht letztlich aus einer einzelnen sehr komplexen Szene, die immer wieder unterbrochen wird. Letztendlich sind es derartige Unterbrechungen, die diese Geschichte kompliziert machen, denn als Leserin oder Leser ist es mir schwerlich möglich, zwischen Realität und Wahn zu unterscheiden.
Ist es Wahn oder ist es Wirklichkeit? Sind die Gefühle, die die Protagonistin erlebt der Erinnerung an Orion geschuldet? Ist die Nacht vielleicht deshalb so düster, weil sie sich in Trauer befindet? Weiß sie ihre eigenen Gefühle möglicherweise nicht einzuordnen und fühlt sich deshalb von der Dunkelheit und den düsteren Figuren der Nacht bedroht?
Nun, auf all diese Fragen kann man bei diesem Stück nicht unbedingt eine plausible oder gar passende Antwort finden.
„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger: eine schnelle Geschichte, wie in einem Zeitraffer
Dieses szenische Konzept innerhalb der Szene, aus der die Geschichte besteht, sorgt letztendlich dafür, dass die reine Handlung eine sehr schnelllebige Erfahrung wird.
Doch „Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger geht über die reine Handlung hinaus, denn obwohl es nur eine aktiv agierende Figur gibt, die aus sich selbst heraus handelt, sind es die Erinnerungen, die diesen Zeitraffer noch ein wenig länger erlebbar machen.
Denn jeder einzelne Rückblick auf das Leben an der Seite von Orion und innerhalb des Dorfes trägt dazu bei, dass die Geschichte scheinbar einen Moment inne hält. Auf diese Weise brechen wir den Zeitraffer aber nicht auf, sondern halten ihn nur einen kurzen Moment an, um innezuhalten und Orion zu gedenken.
„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger: ein anspruchsvoller Erzählstil
So simpel wie die Geschichte auf den ersten Blick scheint, ist sie bei genauerer Betrachtung jedoch nicht, denn der Erzählstil in dem Gertrud Leutenegger die Geschichte ihrer namenlosen Protagonistin erzählt, ist anspruchsvoll. Die Wortwahl ist komplexer, als wir dieses auf den ersten Blick erwarten würden.
Alleine durch eine Namensbezeichnung wie Orion entsteht im Kopf des Lesers ein Bild und so wie dieses Bild entsteht, entstehen durch Gertrud Leuteneggers metaphorische Sprache zum Teil undurchdringlicher Vorstellungen.
Betrachtet man lediglich die einzelnen Worte und lässt die atmosphärische Darstellung aus dem Spiel, so sind einige der Metaphern vielleicht gar nicht derartig greifbar, aber im Zusammenspiel mit der Handlung, der Atmosphäre und den Erinnerungen, wird aus der Erzählung eine höchst komplexe und nachhaltige Betrachtung.
„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger: kein Roman, der unterhalten möchte
Dieser Roman ist keiner, der unterhalten wird. Dieses wird auch gar nicht angestrebt. Vielmehr lädt dieser Roman dazu ein, dem Tiefgang nachzuspüren und in die Geschichte einzutauchen. Auf diese Weise fangen wir als Leser an, das Gelesene zu hinterfragen und die Geschichte selbst mit Atmosphäre und Hintergrund aufzuladen.
Vielleicht sollte man noch sagen, dass sich diese Geschichte eher an gebildete oder reifere Leser richtet, die selbst nicht nur eine ganze Menge Bücher gelesen haben, sondern auch mitten im Leben stehen. In dem Moment, wo wir selbst anfangen, Inhalt in die Geschichte hinein zu lesen und zu interpretieren, benötigen wir das Wissen, welches wir selbst in der Vergangenheit aufgebaut haben.
„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger: eine weibliche Protagonistin, die gleichermaßen anzieht und abstößt
Versucht man sich mit diesem Roman mit der Figur der Protagonisten zu identifizieren, so fällt dieses nicht unbedingt leicht, denn einerseits kennt jeder das Gefühl vom verlassen werden und auch das Gefühl nicht länger an einem Ort bleiben zu können, gleichzeitig jedoch bietet die Figur zu wenig Anhaltspunkte sich tatsächlich mit ihr zu identifizieren. Auf diese Weise bleibt der Leser stets ein wenig außerhalb der Geschichte, obwohl er doch gleichzeitig die Gedankenwelt der Protagonistin miterlebt.
„Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger: ein allwissender Erzähler
Dass es sich bei der Perspektive um einen allwissenden Erzähler handeln, wird mir als Leserin dieser Geschichte schnell klar, denn ich betrachte die Welt der Protagonisten zwar von außen, bekomme aber doch Einblicke in ihre Gedankenwelt. Dabei kann ich noch nicht einmal genau sagen, woher dieser Einblick bekommen.
Sitze ich mit der namenlosen Frau in einem Raum, der nichts anderes darstellt, als Schwärze und Schatten? Erzählt sie mir diese Geschichte? Oder ist es nicht so, dass der allwissenden Erzähler gleichzeitig von draußen auf die Frau blickt und wenig später in ihre Gedankenwelt eintaucht? Doch warum weiß dieser allwissenden Erzähler dann nicht, ob die Fasnacht-Figuren, die der Frau stets begegnen, eine Bedrohung darstellen oder letztendlich aus einem Wahn heraus gefährlich erscheinen?
Über die Autorin Gertrud Leutenegger
„Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, veröffentlicht seit 1975 Romane, Essays, Gedichte und Theaterstücke; ein Werk, für das sie vielfach ausgezeichnet wurde. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, heute wohnt sie in Zürich.“ (Suhrkamp)
Fazit zu „Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger
Bei „Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger handelt es sich um einen anspruchsvollen und durchaus auch psychologischen Roman, der im Rahmen eines Kammerspiels erzählt wird. Aufgrund dieser psychologischen und metaphorischen Art diese Geschichte zu lesen ist es keinesfalls leicht oder angenehm diesen Roman zu lesen.
Vielmehr regt der Tiefgang und die Themen Trauer, Vertreibung, Angst, Rückkehr und Reflektion dazu an, intensiv über die Geschichte nachzudenken. Sie ist somit nicht für jeden Leser ideal geeignet.
Wer Unterhaltung sucht, wird mit diesem ernsthaften Roman wenig Freude haben. „Späte Gäste“ von Gertrud Leutenegger ist ein Roman für Leser, die Tiefgang wünschen.
Späte Gäste
"Späte Gäste" von Gertrud Leutenegger ist ein Roman, der innerhalb kurzer Zeit gelesen werden kann und der einen auch noch einige Zeit danach fesselt. Dabei ist es weniger die reine Handlung, die mich als Leserin in ihren Bann zieht, sondern eher die Atmosphäre oder das Gefühl, das beim Lesen erzeugt wird.
URL: https://www.suhrkamp.de/buecher/spaete_gaeste-gertrud_leutenegger_42958.html
Autor: Gertrud Leutenegger
Autor: Gertrud Leutenegger
ISBN: 978-3-518-42958-7
Veröffentlichungsdatum: 2020-08-17
Format: https://schema.org/Hardcover
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Späte Gäste
"Späte Gäste" von Gertrud Leutenegger ist ein Roman, der innerhalb kurzer Zeit gelesen werden kann und der einen auch noch einige Zeit danach fesselt. Dabei ist es weniger die reine Handlung, die mich als Leserin in ihren Bann zieht, sondern eher die Atmosphäre oder das Gefühl, das beim Lesen erzeugt wird.
URL: https://www.suhrkamp.de/buecher/spaete_gaeste-gertrud_leutenegger_42958.html
Autor: Gertrud Leutenegger
Autor: Gertrud Leutenegger
ISBN: 978-3-518-42958-7
Veröffentlichungsdatum: 2020-08-17
Format: https://schema.org/Hardcover
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