„ESCAPE – Wenn die Angst dich einholt“ von Nina Laurin ist ein Thriller, der von Anfang an ungewöhnlich ist, da er mit dem Ende der Entführung von Ella Santos beginnt, bevor er schließlich knapp 10 Jahre später mit der eigentlichen Geschichte beginnt, hier geht es nun um Lainey Moreno, die sich selbst aber nur Laine nennt. Dass Laine eigentlich Ella Santos heißt und zu vergessen versucht, was ihr im Alter von zehn Jahren passiert ist, wird schnell klar. Ella Santos wurde im Alter von 10 Jahren entführt. Hochschwanger gelang ihr vier Jahre später die Flucht. Doch der permanente Missbrauch durch ihren Entführer hat seine Spuren hinterlassen und so kommt Laine mehr schlecht als recht mit ihren Aushilfsjobs über die Runden. Mehr oder weniger stark betäubt durchlebt sie ihren Alltag.
Die Geschichte beginnt
Als ihre Chefin sie schließlich bittet, das Vermissten-Plakat eines entführten Mädchens aufzuhängen, erwacht Laine aus ihrer emotionalen Ohnmacht, denn das Entführungsopfer, zeigt eine jüngere Ausgabe ihrer Selbst. Dass es sich bei der Entführten um ihr zur Adoption freigegebenes Mädchen handelt, spürt Laine intuitiv und findet die Bestätigung als wenig später die Polizei bei ihr erscheint und nach einem Alibi fragt.
Stilistisches
Betrachtet man das Thriller-Debüt von Nina Laurin als einen Roman, so ist dieser definitiv mit einer eindringlichen Bedrückung für den Leser geschrieben. Dadurch das er aus der Perspektive von Laine Moreno geschrieben wurde, die wie bereits oben erwähnt, unter permanenten Betäubungsmitteln steht, ohne die sie nicht durch ihren Alltag kommt. Zwar gibt Laine gegenüber außenstehenden die perfekte Fassade einer jungen Frau mit einem ganz normalem Alltag zum Besten und kann sich jedoch gleichzeitig kaum auf das konzentrieren, was für andere alltäglich ist. So erlebt sie bestimmte Situationen mehrfach und weiß sie doch nicht in vollem Umfang einzuschätzen. Das macht es für den Leser emotional schwierig, diesem Buch seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, denn obwohl man tief in der Geschichte steckt, hat man doch den Eindruck, dass die Handlung den Leser außen vor lässt.
Dieser Effekt wird durch eine einfache Sprache der Autorin einerseits perfekt unterstützt, andererseits aber auch abgefedert. Die Einfachheit ihrer Worte lässt den Leser in einen Strudel der Emotionen eintauchen. Ähnlich wie die Protagonistin Laine Moreno hat der Leser jedoch das Gefühl, als befände er sich mitten in einem Drogenrausch. Man erlebt die Flashbacks der Protagonistin sowie ihre Emotionen einerseits hautnah mit, hat anderseits das Gefühl als wäre man selbst in Watte verpackt. Zwar geht es dem Leser immer noch besser, als besagter Protagonistin, dennoch stellt sich bei dem Leser eine Art emotionale Ermüdung ein, während er das Buch verschlingt.
Psychologisches oder die Kraft der Erinnerung
Tatsächlich lebt Laine Moreno hauptsächlich in ihrer eigenen Welt, zurückgezogen und ohne jemanden wirklich an sich heranzulassen. Ohne Freunde und ohne soziale oder gesellschaftliche Lebenserfahrungen ist sie das, was man als klassische Einzelgängerin bezeichnen würde. Menschen machen ihr Angst, beziehungsweise jagen sie ihr aufgrund unerwarteter Verhalten derjenigen, immer wieder Erinnerungen und Albträume ein, denn in vielerlei Hinsicht kann Laine ihr Verhalten jener Mitmenschen nicht deuten. Diese Fehlinterpretationen machen das Buch nicht unbedingt spannender, aber aus psychologischer Sicht nachvollziehbar. Nach ihrer eigenen Entführung war Laine eigentlich nie wieder sie selbst. Zudem konnte sie auch nicht zu der Frau heranwachsen, die sie ohne die prägenden Entführungserfahrungen vermutlich geworden wäre. So ist sie letztendlich ein Schatten ihrer selbst.
Eine Entwicklung aus der Situation heraus
Letztlich hat Laine ihre eigenen Erlebnisse wohl selbst nie verarbeiten können, obwohl sie psychiatrisch natürlich betreut wurde. Durch die Tatsache jedoch, dass sie den Mitmenschen misstraut, war es ihr auch nicht möglich, mit anderen in Kontakt zu treten und über ihre Erlebnisse zu sprechen. Durch dieses Verdrängen war ein Aufbrechen des Traumas bislang unmöglich. Durch das Verschwinden ihrer Tochter und das plötzliche Hilfegesuch der liebevollen Adoptivfamilie ist sie jedoch gezwungen, sich ihren Dämonen und somit ihrer Vergangenheit zu stellen. Diese neuerliche Aufarbeitung ist nicht nur die letzte Rettung für die Tochter, sondern auch für Laine selbst.
Für mich kein Thriller
Tatsächlich handelt es sich bei dem Buch nicht um die klassische Umsetzung eines Psycho-Thrillers, sondern eher um einen psychologischen Spannungsroman. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass Nina Laurin weniger über eine actiongeladene Handlung, als viel mehr über die psychologischen Aspekte und Wahrnehmungen der Protagonistin. Der Fall der entführten Tochter rückt somit, obwohl stets Präsent, in den Hintergrund von Laines Wahrnehmung. Da die Geschichte aber aus ihrer Sicht geschrieben ist, verliert der Fall an Bedeutung und fast nur die Aufarbeitung ihrer eigenen Erinnerungen und Erfahrungen trägt zur Klärung bei. Doch führt das Aufbrechen der Erinnerungen sowohl zur Rückkehr der Tochter in ihre Adoptivfamilie, als auch zu einer Verbesserung in Laines Leben?
Über Nina Laurin
„Nina Laurin, zweisprachige Kanadierin, studierte Creative Writing an der Concordia University in Montreal, wo sie derzeit auch lebt. Sie hat verschiedene Short Stories in Magazinen und Anthologien veröffentlicht.“ (Droemer Knaur)
Eindrücke
Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Buch als Hörbuch noch intensiver gewesen wäre, könnte es mir aber aufgrund der Perspektive und Emotionsdarstellung gut vorstellen. Auf diese Weise würde man noch tiefer in die Erzählung eintauchen, allerdings gleichzeitig nervlich noch stärker involviert sein. Während man dieses Buch liest, ist man häufig motiviert, die Protagonistin einfach mal zu schütteln, sie in den Arm zu nehmen oder etwas Vergleichbares zu unternehmen. Man verliert sich selbst in dieser Geschichte und schafft es nicht, das Buch aus der Hand zu legen, bevor man es zu Ende gelesen hat. Dennoch ist sicherlich auch die intensive Darstellung der Emotionen ein Aspekt, das Buch zu lesen. Als Freunde des gelungenen Thrillers wird man mit diesem Buch nicht unbedingt glücklich, da die beschriebenen Emotionen die Handlung überlagern.
Dieser Roman ist sicherlich ungewöhnlich und lesenswert, betrachtet man diesen Roman aber vor der Einschätzung des Verlags und des Genres Thriller ist es für mich als Leser schwierig, diesem Roman das Potential zu zu sprechen, das er besäße, würde ich ihn als soziokritischen oder psychosozialen Roman betrachten. Diese Geschichte lebt vorzugsweise von Dialogen sowie menschlichem Miteinander und rückt doch eher Gedanken in den Vordergrund.
Die Geschichte einer gebrochenen Frau
Laine Moreno als Protagonistin und als Perspektivgeberin der Geschichte zu wählen, war sicher ein gelungener Schachzug der Autorin. Aber eben leider nicht als Auftakt für die Darstellung eines Falls und somit eines Thrillers. Es ist viel eher so, dass durch diese Perspektive die Geschichte einer gebrochenen Frau erzählt wird. Eine Geschichte, die vor allem aus der Vorgeschichte der Protagonistin entsteht, die durch den Prolog zum Leben erweckt und gleichzeitig beendet wird. Nein, der Prolog ist hierbei nicht Anfang und Ende zugleich, sondern Auflösung. Sicherlich hat die Entwicklung einer solchen Protagonistin, die trotz aller Schwäche stark dargestellt wird, die Autorin einige Energie, Zeit und Recherche gekostet, aber das hat sich letztlich auch gelohnt, denn als gebrochenen Frau ist Laine Moreno Antrieb und Bremse zugleich.
Fazit
Nichts für schwache Nerven und dennoch kein Thriller. Meiner Meinung nach entspricht dieser Roman, der vom Verlag wohl versehentlich als beschriebener Thriller ausgewiesen wurde, allen Faktoren der guten Unterhaltung, bietet jedoch nicht die Möglichkeit weiter erzählt zu werden. Die Geschichte endet mit der letzten Seite. Dieses Debüt der kanadischen Autorin hat für mich viel Potential, lässt mich jedoch in manchen Teilen an kriminalistischen Spannungen und Elementen vermissen.
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