„Flüchtiges Begehren – Commissario Brunettis 30. Fall“ von Donna Leon ist sicherlich ein Krimi von dem ich etwas ganz anderes erwartet hatte. Erwartet hatte ich ursprünglich einen klassischen Venedig-Krimi.
Bekommen sollte ich einen Krimi, der zwar auf den Wasserstraßen von Venedig spielt, allerdings bei weitem noch mehr zu bieten hat. Geht es zunächst bei diesem Kriminalroman um eine Körperverletzung, bei der man sich fragen muss, ob tatsächlich Commissario Brunetti ermitteln muss oder ob dies nicht eher ein „Verkehrsunfall mit Fahrerflucht“ oder eine „unterlassene Hilfeleistung“ ist.
Dann jedoch nimmt der eigentliche Krimi schnell Fahrt auf, denn Brunetti stolpert mehr oder weniger in einen Fall rein, der viel größer ist, als man dies zunächst erwarten würde.
„Flüchtiges Begehren – Commissario Brunettis 30. Fall“ von Donna Leon: Langsamer Einstieg
Zu Beginn des Krimis hat man den Eindruck, es würde sich eher um einen Roman handeln, denn um einen echten Krimi. Doch wer Donna Leon kennt, ahnt bereits, dass dieses nicht lange so bleiben wird. Wie bereits erwähnt, deutet zunächst alles auf einen Bootsunfall mit Fahrerflucht und unterlassener Hilfeleistung hin.
Zunächst weiß niemand, was überhaupt passiert ist. Doch werden Guido Brunetti und seine Partnerin hinzugezogen, als zwei bewusstlose und schwerverletzte Frauen auf dem Steg des örtlichen Krankenhauses entdeckt werden. Dank einer Videoaufzeichnung erfahren der Commissario und sein Team zwar recht schnell, was passiert ist und doch ergeben die auf Video festgehaltenen Geschehnisse für die erfahrenen Ermittler zunächst wenig Sinn.
Denn das Video zeigt, wie zwei unbekannte Männer die zwei Frauen auf den Steg legen, doch dann, anstatt Hilfe zu holen, mit ihrem Boot verschwinden. Während das Team noch mehr über die Geschehnisse in Erfahrung bringen möchte, baut sich vor ihnen eine Mauer des Schweigens auf.
„Flüchtiges Begehren – Commissario Brunettis 30. Fall“ von Donna Leon: Weitestgehend unblutig
Im Vergleich zu „Geheime Quellen“ ist dieser 30. Fall kein regionaler Krimi, sondern ein Krimi, der sich in gleich mehrere Unterkategorien des klassischen Krimis auffächert. Im direkten Vergleich zu seinem Vorgänger handelt es sich beim aktuellen Fall aber nicht um ein Umweltdelikt, das allem zugrunde liegt.
Die Spuren führen Brunetti und sein Team eher ins organisierte Verbrechen. Der Autorin, Donna Leon, gelingt es, sowohl die Szenen des Unfalls als auch alles folgende weitestgehend unblutig und ohne große gewaltsame Szenen darzustellen.
„Flüchtiges Begehren – Commissario Brunettis 30. Fall“ von Donna Leon: Psychologisch anspruchsvoll
Obwohl man meinen könnte, dass ein Krimi, der weitestgehend unblutig und ebenso gewaltarm erscheint, von nahezu allen Lesern gelesen werden kann, ist dieses nicht zwangsweise der Fall. Für zartbesaitete Leserinnen und Leser ist dieser Krimi jedoch nicht ideal. Obwohl unblutig und frei von Gewaltszenen erscheint dieser Krimi psychologisch anspruchsvoll.
Schritt für Schritt rekonstruieren die Kommissare die Ereignisse und holen sich darüber hinaus auch noch Unterstützung von anderen Einheiten. Diese Zusammenarbeit erweist sich als überaus sinnvoll, nicht nur für die Aufklärung des Falls, sondern auch für den Spannungsbogen des Krimis.
Dieser steigt nämlich nach einem vergleichsweise ruhigen und sanften Einstieg sprunghaft an. Tatsächlich kommt es zu Wendungen und Entwicklungen, die ich als Hörerin so anfangs nicht hätte vorausahnen können. Im Gegenteil – dachte ich zu Beginn einen ruhigen und möglicherweise unspektakulären Krimi zu bekommen, entstand im Verlauf zunächst eine Dynamik und schließlich ein explosives und tödliches Ende.
„Flüchtiges Begehren – Commissario Brunettis 30. Fall“ von Donna Leon: Weniger Lokalkolorit?
Besitzt dieser Krimi, der so ganz anders ist, als seine Vorgänger womöglich weniger Lokalkolorit? Nun, es ist schwer bei einem Krimi, der in Venedig spielt, von mangelndem Lokalkolorit zu sprechen. Allein die Wasserstraßen Venedigs sind ja bereits einzigartig.
Auch viele spannende Kulissen und somit potentielle Handlungsorte könnte man im Rahmen eines solchen Krimis finden. Tatsächlich müsste man im Fall von Venedig von einer einzigartigen Atmosphäre sprechen, die durchaus auch zahlreiche Touristen begeistert.
Bislang wurden diese Orte auch immer von Donna Leon gefunden. Commissario Brunnettis 30. Fall scheint jedoch ein wenig aus der Reihe zu fallen. Obwohl dieser Krimi größtenteils auf den Wasserstraßen Venedigs spielt, ergibt sich die typische kulturelle Atmosphäre Venedigs nur am Rande.
Gut, die Familie des Kommissars trifft sich mit Freunden, auch die lokale Gastronomie wird durch den Commissario in gewisser Regelmäßigkeit frequentiert und aufgesucht. Viele wesentliche Informationen dieses Krimis oder besser des Falls werden in kleinen Bars oder Cafés ausgetauscht.
Insoweit könnte man sagen, dass das typische italienische Flair der Donna-Leon-Krimis auch hier entwickelt wird. Gleichzeitig jedoch muss ich zugeben, dass das Flair welches dieser 30. Fall besitzt ein anderes ist.
„Flüchtiges Begehren“: Wo bleibt hier die Leidenschaft?
Zwangsläufig stellt man sich bei diesem Krimititel die Frage, wo sich die Liebesgeschichte entwickelt, denn Begehren und Leidenschaft sind doch irgendwo typische oder sollte ich eher sagen signifikante Aspekte einer Beziehung. Ich selbst musste eine ganze Weile überlegen, worauf sich dieser – für mich – durchaus ungewöhnliche Titel bezieht.
Tatsächlich kann ich nun behaupten, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, diesen Titel zu interpretieren. Zum einen natürlich in der eigentlichen Einstiegsszene des Krimis, die sich allerdings so keinesfalls im Einstieg des Krimis zeigt. Vielmehr rede ich an dieser Stelle von der Einstiegsszene, die nach und nach ermittelt wird.
Aus diesem Grund möchte oder kann ich euch auch nur sagen, dass zwei Touristinnen aus den USA zwei Männer treffen, sich von ihnen die beeindruckenden Wasserstraßen Venedigs zeigen lassen und dabei den besagten Unfall erleiden. Ging es bei dieser Szene um ein flüchtiges, weil kurzfristiges Begehren?
Oder bezieht sich der Titel möglicherweise auf eine ganz andere Szene, auf die ich im Rahmen dieser Rezension nicht eingehen werde, um euch nicht den Spaß am Buch oder Hörbuch zu nehmen?
Vielschichtige Charaktere oder doch nur an der Oberfläche gekratzt?
Habe ich im vorangegangenen Teil noch die Vielschichtigkeit der Charaktere gelobt, bin ich mir bei diesem Jubiläumsfall nicht ganz sicher, ob sich die Vielschichtigkeit der Charaktere wieder als etwas Positives darstellen lässt, denn tatsächlich blieb Donna Leon bei diesem an sich charmant klingenden Krimi ein wenig hinter meinen Erwartungen zurück.
Obwohl die Figuren auch dieses Mal durchweg eindringlich und mit Tiefgang erschienen, muss ich feststellen, dass in vielfacher Hinsicht nur an der Oberfläche gekratzt werden konnte. Auf diese Weise blieben viele Episodenrollen und -hauptrollen ein wenig undurchschaubar. Leider scheine ich hier tatsächlich zu hohe Erwartungen gehabt zu haben.
„Flüchtiges Begehren“ von Donna Leon: ein Jubiläumskrimi, der Erwartungen weckt
Vielleicht hatte ich auch einfach etwas völlig anderes von diesem Krimi erwartet, denn obwohl es sich hierbei um einen Krimi im klassischen Sinne handelt, erwarte ich doch wieder etwas, das „venedigtypisch“ ist. Moment, möchte der eine oder andere jetzt vielleicht fragen, sind Wasserstraßen etwa nicht typisch Venedig?
Doch, na klar, Wasserstraßen sind typisch Venedig und doch hätte ich nach dem starken 29. Teil einen ebenso starken 30. Teil mit Eindrücken aus der Kultur erwartet, leider blieb der Krimi an dieser Stelle hinter meinen Erwartungen zurück und entwickelte sich in eine ganz andere Richtung.
„Flüchtiges Begehren“ von Donna Leon: gewohnt gradlinig
Donna Leons Krimis zeichnen sich durch eine Geradlinigkeit aus, die bei aller linearer Entwicklung doch nicht vorhersehbar sind. Genau deshalb fand ich bereits jene Krimis gut, ich im Fernsehen gesehen habe. Die Krimis dieser Autorin besitzen halt einfach ihren ganz eigenen Charme und die Charakterzüge der Figuren unterstreichen die Geradlinigkeit noch, in der die Geschichte selbst erzählt wird.
Gradlinig erscheint mir auch dieser überraschend andere Krimi, denn letztlich entwickelt sich die Geschichte im Verlaufe der Zeit nicht etwa in eine unglaubwürdige Handlung. Es ist eher so, dass die Autorin bereits im Beginn der ersten Szene alles angelegt zu haben scheint, was im späteren Verlauf passiert.
Als Leser sieht man diese zahlreichen angelegten Stränge allerdings nicht, man sieht genau genommen einfach zwei Männer und zwei Frauen, die gemeinsam auf einem Boot durch Venedig fahren. Auf den ersten Blick wirkt alleine diese Vorstellung schon recht harmlos, doch bei genauerer Betrachtung muss man feststellen, dass in dieser ersten Szene bereits all das angelegt ist, später passiert.
Erschreckend eigentlich und doch positiv, denn obwohl dieser Krimi anders ist, ergibt sich ein Spannungsgeflecht, dass es mehr als Hörerin unmöglich macht, dass abzuschalten. Viele Leser geht es vermutlich ähnlich. Zu Anfang ist man vielleicht noch überrascht, wie anders die einzelnen Donna Leon Krimis doch erscheinen und in welcher Vielfalt die Fälle sich entwickeln.
Sagt man positiver Weise über ein Krimi, dass er bestenfalls nicht vorhersehbar sein soll, so enttäuscht mich auch der 30. Fall von Commissario Brunetti in keinster Weise und doch ist er angesichts einer durchaus veränderten Stimmung ganz anders.
Über die Autorin Donna Leon
„Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London. Sie lehrte Literatur an Universitäten im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die ›Brunetti‹-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.“(Diogenes)
Über den Sprecher Joachim Schönfeld
„Joachim Schönfeld, geboren 1963, studierte Schauspiel an der Hochschule Ernst Busch in Berlin und gehörte zum Ensemble des Deutschen Nationaltheaters Weimar, der Freien Volksbühne Berlin und des Schillertheaters Berlin. Seit 1992 arbeitet er freischaffend als Schauspieler für Film und Fernsehen und war u. a. in „Berlin Break“, „Tatort“ und „Mein Mann, der Trinker“ zu sehen.
Auch als Sprecher für Hörfunk- und Hörbuchproduktionen hat er sich einen Namen gemacht. Von 1996 bis 2000 studierte er Regie am American Film Institute (AFI) in Los Angeles und ist seitdem auch als Regisseur und Autor tätig.“ (Amazon)
Fazit zu „Flüchtiges Begehren“ von Donna Leon
Commissario Brunettis 30. Fall ist anders, aber deshalb keinesfalls schlechter. Persönlich schätze ich, dass die Autorin einige wesentliche Aspekte eines typischen Krimis der Commissario Brunetti-Reihe beibehält, wobei sie andere scheinbar gekonnt opfert.
Meine Feststellung, dass „Flüchtiges Begehren“ von Donna Leon anders ist, als ich es erwartet hatte kann man nun auf zweierlei Weise verstehen: Zum einen könnte man behaupten, ich als Leserin oder Hörerin wäre mit der Geschichte nicht einverstanden.
Zum anderen könnte man überein kommen, dass diese Veränderung möglicherweise nur der einzelnen Episode geschuldet ist, sich also aus der Handlung selbst ergibt, lso die Besonderheit dieser Episode ist.
Im Vergleich zum vorangegangenen hat mir diese Episode nun geringfügig schlechter gefallen, als die vorangegangene und möglicherweise auch als manch ein Film, den ich aus dieser Reihe bereits kenne.
Dennoch ist auch dieser 30. Fall kein schlechter und ich kann nur darauf hoffen, dass Donna Leon im 31. Fall wieder ein wenig mehr Atmosphäre, Stimmung und das typische Ambiente Venedigs aufgreift, damit wir schon bald das Gefühl haben, wieder von Commissario Brunetti mit in den Urlaub genommen zu werden.
Flüchtiges Begehren - Commissario Brunettis 30. Fall
"Flüchtiges Begehren - Commissario Brunettis 30. Fall" von Donna Leon ist sicherlich ein Krimi von dem ich etwas ganz anderes erwartet hatte. Erwartet hatte ich ursprünglich einen klassischen Venedig-Krimi.
URL: https://www.diogenes.ch/leser/titel/donna-leon/fluechtiges-begehren-9783257071207.html
Autor: Donna Leon
Autor: Donna Leon
ISBN: 978-3-257-07120-7
Veröffentlichungsdatum: 2021-06-01
Format: https://schema.org/Hardcover
URL: https://www.diogenes.ch/leser/titel/donna-leon/fluechtiges-begehren-gesprochen-von-joachim-schoenfeld-9783257804263.html
Autor: Donna Leon; Joachim Schönfeld
ISBN: 978-3-257-80426-3
Veröffentlichungsdatum: 2021-05-26
Format: https://schema.org/AudioBook
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