„Hundert Augen“ von Samanta Schweblin ist ein Roman, der seine Leser wachrütteln möchte. Die Möglichkeiten, aber auch die Bedrohungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, sorgen dafür, dass wir als Leser schnell in den Bann dieser Geschichte gezogen werden.
Scheinbar harmlos kommen die Plüschtiere, die unter der Bezeichnung Kentuki vertrieben werden, in die Wohnungen und damit in die Lebenswelt der Menschen. Über eine Kamera mit Mikrofon, einen Motor und eine Internetverbindung werden sie von außen gesteuert.
Für alle Nutzer ist dies zunächst ein Spiel und eine Möglichkeit der sozialen Interaktion. Sie sehen vor allem die Chancen, sich spielerisch mit einem Unbekannten auszutauschen.
Doch beim Wort „Unbekannten“ dürfte auch klar werden, welche Bedrohung es gibt. Denn mit jedem Kentuki, dass die Welt der „Hundert Augen“ betritt, gibt der Herr oder die Herrin einem Unbekannten die Erlaubnis, in die eigene Welt einzudringen. Mir gruselte es bereits bei der Vorstellung, dabei ist die Idee keinesfalls unglaubwürdig.
„Hundert Augen“ von Samanta Schweblin zeigt menschliche Abgründe
Das gruselige an der Idee von Samanta Schweblin ist, dass die Kentukis sich so gut in den Alltag der Menschen integrieren. Dabei sind sie ganz ähnlich wie die Haustiere, die die Menschen bereits kennen.
Gleichzeitig jedoch öffnet diese Möglichkeit und dieses Vertrauen in die neue Technik auch der Spionage Tür und Tor. Dabei dringen nämlich die Unbekannten in die Privats- oder sogar in die Intimsphäre der Menschen ein.
Sie erfahren Dinge, die man möglicherweise nicht einmal seinem Mitbewohner oder seinem Lebensgefährten mitteilen würde. Denn viele Herren und Herrinnen nehmen das neue Spielzeug, das so viel Ähnlichkeit mit einem Haustier hat, überall mit hin. Manchmal wird sogar das Kentuki selbst zu einer Art Lebensbegleiter.
Offenbart dieser Roman also Abgründe menschlichen Daseins? Ja, so oder so ähnlich könnte man es beschreiben, denn letztendlich verhalten sich nicht die Spielzeuge falsch, sondern die Menschen, die sich auf dieses Spiel, das keine Geheimnisse zulässt und erlaubt, einlässt.
Die Kentukis sind in dieser Betrachtung nicht unbedingt das einzige Problem, denn, wenn man ihnen feste Grenzen einräumen würde, wie zum Beispiel einen eigenen Raum, hätten sie kaum eine Möglichkeit, derartig viel über die Abgründe der Menschen zu erfahren. Doch das gesittete Miteinander gerät bei ihren Besitzern und den Spielern in Vergessenheit.
Auf diese Weise offenbar hat die Autorin zahlreiche Geheimnisse ihrer Protagonisten. Das macht es einerseits spannend, aber andererseits auch unbegreifbar. Erst die grenzenlose Offenheit innerhalb der Geschichte sorgt dafür, dass diese Geschichte derartig spannend und unterhaltsam wird.
Sie entwickelt einen Sog und zieht den Leser oder die Leserin immer stärker in die Geschichte hinein. Gleichzeitig zwingt sie mich als Leserin dazu, über die einzelnen Handlungen der Geschichte nachzudenken.
„Hundert Augen“: wechselnde Perspektiven
Den Leserinnen und Lesern von „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin wird dabei eine Perspektive geboten, die in Teilen der Perspektive der Kentukis entspricht. Andere Szenen jedoch werden aus Sicht der Herrin oder des Herrn, dem das Spielzeug gehört, dargestellt.
Auffällig ist dabei, dass dieses Buch nicht nur aus zwei oder drei Perspektiven besteht, sondern dass jeder Herr, jede Herrin und jedes Kentuki, welches im Rahmen dieser ungewöhnlichen Geschichte mitwirkt, seine eigene Perspektive kommt.
Aus diesem Grund ist die Geschichte einerseits sehr abwechslungsreich, andererseits auch sehr sprunghaft. Das macht sie zum einen lebendig, zum anderen aber auch kurzweilig und schnelllebig.
Wer sich als Leserin oder Leser auf diese Geschichte einlässt, der kann das Buch nicht mehr aus der Hand legen, bevor er es nicht beendet hat. Dabei wird ein weiterer menschlicher Abgrund deutlich.
Denn auch wir Leserinnen und Leser ergötzen uns im Falle dieses Romans an dem jeweiligen Missverhalten der Protagonisten. Ja, tatsächlich müsste man sagen, dass wir sogar Spaß an der Geschichte haben.
„Hundert Augen“ von Samanta Schweblin: eine alltagsnahe Sprache, dicht am Leser und auch am Protagonisten
Tatsächlich könnte man meinen, dass „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin ein Buch ist, dass aufgrund eines technischen Anspruchs eher eine schwere Sprache bedarf, tatsächlich ist so, dass die Sprache in diesem Buch nicht schwerer oder leichter ist, als in anderen Büchern auch.
Vielmehr erscheint es mir so, als wäre die Sprache selbst eine sehr alltagsnahe Sprache, die sich dicht am Leser orientiert. Da sich auch die Protagonisten irgendwie am Leser orientieren, orientiert sich die Sprache selbst sowohl am Leser als auch am Protagonisten.
Dies macht die Geschichte selbst authentisch und sorgt dafür, dass sich der bereits beschriebene Sog noch intensiviert.
„Hundert Augen“ von Samanta Schweblin: Eine leise Kritik an unserer modernen Gesellschaft
Wer sich die Figuren, die in „Hundert Augen“ mitspielen, genauer anschaut, wird feststellen, dass Samanta Schweblin Figuren nach dem Abbild der Gesellschaft geschaffen hat. Von Jung bis Alt, von Reich bis Arm scheint jeder irgendwie vertreten zu sein.
Somit kann man sich als Leser relativ schnell in die Figuren einfühlen. Dies ist auch wichtig, denn ansonsten würden wir die leise Kritik, die die Autorin im Rahmen dieser Geschichte an der Gesellschaft übt, gar nicht wahrnehmen.
Tatsächlich aber will „Hundert Augen“ Kritik an einer Gesellschaft üben, die längst leichtfertig jede neue Technologie in ihr Leben lässt, die technophil ist und gleichzeitig ihre Daten ungesichert zur Verfügung stellt.
Dabei hinterfragt diese Gesellschaft allerdings noch nicht einmal, was eigentlich in der Technologie vorgeht, was mit den Informationen, die die Technik erhält, hintergründig geschieht, wie sie möglicherweise weiterverarbeitet und gespeichert wird.
All das sorgt letztlich dafür, dass mich dieser Roman nicht nur wachrüttelte, sondern im positiven Sinne schockierte.
Samantha Schweblin alarmiert mich als Leserin, in dem sie mir zeigt, wie sich möglicherweise bestimmte Aspekte darstellen. Dabei ist es geradezu grob fahrlässig, umnicht zu sagen pervers, wie sich manche Figuren in diesem Roman gegenüber der Technik gebärden.
Über die Autorin Samanta Schweblin
„Samanta Schweblin wurde 1978 in Buenos Aires geboren. Für ihren Erzählungsband Die Wahrheit über die Zukunft erhielt sie 2008 den Premio Casa de las Américas sowie den Juan-Rulfo-Preis, für den Band Sieben leere Häuser erhielt sie den Premio de narrativa breve Ribera del Duero de España.
Ihre Bücher sind in 25 Sprachen übersetzt. Samanta Schweblin lebt und arbeitet in Berlin.“(Suhrkamp)
Für welche Leserinnen und Leser bietet sich „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin an?
Wer „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin lesen möchte, sollte sich darüber bewusst sein, dass dieser Roman das Denken über Technik und technische Hilfsmittel, die einem das Leben erleichtern, verändern wird.
Dabei sollte man allerdings ein gewisses Interesse an Technik mitbringen, denn ansonsten hat man als Leser oder Leserin nicht unbedingt einen Zugang zur Geschichte.
Wer mich kennt, der weiß, dass ich mich seit geraumer Zeit mit Themen wie Digitalisierung und Internet beschäftige. Genau diese Interessen waren auch grundlegend dafür, in diesen Roman hineinzukommen.
Trotz einer starken Einstiegsszene ist es nämlich so, dass man möglicherweise schnell die Geduld mit diesem Roman verliert, wenn man sich nicht für die Technik und die Zusammenhänge der Geschichte begeistern kann.
„Hundert Augen“ von Samanta Schweblin lebt vom schnellen Wechsel der Szenen, von kurzen Kapiteln und von einem Alltag, der von der Technik ergänzt wird.
Die Geschichte, die mit Sicherheit eine Sogwirkung besitzt, zeigt, was eine Abhängigkeit von der Technik oder besser gesagt, ein Vergessen der vorhandenen Technik bei gleichzeitiger Nutzung bedeuten kann.
Ja, „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin ist ein Buch, dasschockieren will. Nicht im Sinne eines Horrorbuches, sondern im Sinne eines Science-Fiction-Buches, das ein mögliches Horrorszenario aufzeigt, wenn wir nicht anfangen, unseren allzu freizügigen Umgang mit Technik zu überdenken und zu regulieren.
Insoweit ist „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin sicherlich ein Roman, der seinesgleichen sucht. Allerdings scheint es so zu sein, dass dieser Roman sich bei allem technischen Know-how nicht nur an jene Leserinnen und Leser richten möchte, die sich bereits für Technik begeistern.
Auch jene Menschen, die Technik kritisch betrachten, können mit diesem Roman durchaus etwas anfangen. Wichtig ist nur, dass überhaupt ein Interesse an dem Thema dieses Buches existiert, ob das Interesse an Technik positiv oder negativ behaftet ist, spielt keinerlei Rolle.
Fazit zu „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin
Mir fällt es schwer, ein Fazit für „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin zu formulieren, da ich weiß, dass mir dieser Roman gut gefallen hat. Allerdings weiß ich auch, dass dieser Roman in seiner vorliegenden Form sicherlich auch Kritiker auf den Plan wird.
Das Buch zwingt einen nämlich regelrecht dazu, seine eigene Position zu suchen und, sofern man sie gefunden hat, zu hinterfragen. Dies macht den an sich eingängigen Roman zu einem Erlebnis, allerdings keinesfalls für jeden.