„Die stumme Patientin“ von Alex Michaelides ist kein Buch wie jedes andere, und sicher kein Buch, wie ich es erwartet hätte. Die Einordnung als Psychothriller fand ich zunächst falsch. Nicht etwa, weil dem Buch die notwendige Spannung fehlte, sondern weil dieser Standard dem Buch nicht gerecht wurde. Ein Psychothriller setzt sich mit den psychischen Aspekten einer Tat auseinander, ja, aber normalerweise erfolgt dieses nicht in einer derartigen Tiefe. Normalerweise geschehen die psychologischen Aspekte augenscheinlich eher nebenbei. Dies war auch der Grund, warum ich dieses Buch zunächst eher ein Psychogramm genannt hätte.
„Die stumme Patientin“ von Alex Michaelides: Ein Stillleben
„Die stumme Patientin“ von Alex Michaelides hielt ich zunächst für ein Psychogramm, denn Alex Michaelides hat zunächst viel über die schweigende Patientin erzählt. Wobei nein, er erzählte es nicht im klassischen Sinne, vielmehr ließ er sie so handeln, dass ihre Handlungen bestimmte Dinge offensichtlich werden ließen.
Mit diesem Trick, der eigentlich zum Handwerk eines jeden guten Schriftstellers gehört, gelang es ihm, den ein oder anderen Dreh zunächst zu verschleiern und erst später offen zu legen. Dies alles trug dazu bei, dass dieses Buch zunächst nur eine unterschwellige Spannung besaß und mir als Leserin einen guten Einblick in die Psyche eines Menschen gab.
Nicht irgendeines Menschen, sondern in die Psyche einer Frau, die gerade ihren Mann ermordet hatte. Mit insgesamt fünf Schüssen ins Gesicht. Da dies von Anfang an festzustehen scheint, begeben wir uns also nicht auf die Suche nach einem Täter.
Vielmehr zu denken gibt mir als Leser die Suche nach einem Motiv. Denn ein Motiv hat Alicia Berenson augenscheinlich nicht. Aber eine Tat im Affekt lässt sich ebenfalls nicht belegen. Was also hat zu der Tat geführt? Und ist Alicia wirklich die kaltblütige Mörderin, für die sie jeder hält?
„Die stumme Patientin“: Eigentlich ein Kammerspiel
Bereits während des ersten Kennenlernens von Alicia Berenson hat man das Gefühl, einer feinfühligen, kreativen aber innerlich zerbrochenen Person gegenüberzustehen. Diesen Eindruck erweckt auch ihr Psychotherapeut Theo Faber, der als Außenstehender erst später mit diesem Fall betraut wird.
Natürlich hatte er in der Zeitung von dem Fall erfahren, sich sogar in ihrer Ausstellung ihr letztes Bild angesehen und doch weiß er zunächst nicht, ob und wie er der Patientin helfen kann. Er wundert sich, dass die Patientin nach all der Zeit, die nach ihrer Tat vergangen ist, immer noch schweigt, nicht nur was das Motiv anbelangt, sondern gänzlich.
Als er seine Stelle in der geschlossenen Abteilung des Grove antritt, nähert er sich der Patientin mit Bedacht, wird gleichermaßen aber auch von seinen Kollegen belächelt, denn nahezu jeder hatte bereits mit dieser ungewöhnlichen Frau zu tun, und jeder hat sich ein Bild von ihr gemacht.
Diese Metapher klingt lustig, wenn man bedenkt, dass es sich bei dieser Protagonistin um eine berühmte Malerin handelt, die sich bereits vor dem Mord an ihrem Mann einen Namen als Künstlerin gemacht hatte.
Der Mord wurde zwar in der Presse seinerzeit heiß diskutiert, hat ihren Ruf aber mehr geschadet als genützt. Was also bringt es ihr, sich nun so Still zu verhalten. Immerhin, die Tatsache, dass sie seit dem Mord an ihrem Mann kein Wort mehr über die Lippen brachte, hat sie jetzt in die Psychiatrie gebracht. Hier trifft Theo Faber das erste Mal auf die Patientin Alicia Berenson.
Es folgen zahlreiche Versuche, Zugang zur Patientin zu bekommen. Zahlreiche Einzelsitzungen, die zunächst ohne Ergebnis bleiben. Auch gegenüber Theo schweigt sie sich aus. Die Aufmachung der Erzählung erinnert mich als Leserin zunächst an ein Kammerspiel, da sich die Szenen zwischen Alicia und Theo auf engstem Raum abspielen.
Die psychiatrische Abteilung ist klar begrenzt, nicht nur weil die Türen nach draußen abgeschlossen sind, sondern auch und vor allem deshalb, weil es für beide Bezug auf diesen Fall keinen drin gibt. Seine Patientin aufgeben, das würde Theo in gar keinem Fall und auch für Alicia gibt es keinerlei Option der Situation zu entkommen.
Szenische, unabhängige Erzählstränge
Wer dieses Buch zu lesen beginnt, der wird mit einer Sogwirkung in dieses Buch hineingezogen. Nicht etwa, weil die Szenen so umfangreich sind, sondern weil man auf jeden Fall wissen möchte, wie es weitergeht.
Viele der einzelnen Kapitel reichen gerade einmal über drei oder vier Seiten. Darüber hinaus gibt es Tagebucheinträge aus dem Tagebuch der Protagonistin, sowie Einblicke in Theos Privatleben, wenn er nicht gerade in der Klinik arbeitet.
Zu behaupten, dass „Die stumme Patientin“ von Alex Michaelides sehr schnell erzählt ist, wäre sicherlich ein Fehler, vielmehr gibt es durch die Kürze der Kapitel und durch die personellen Wechsel zwischen den einzelnen Szenen immer wieder kleine Unterbrechung, die dem Leser Zeit zum Nachdenken geben, so wie auch Theo Zeit für Recherchen braucht.
Mir persönlich gefiel dieses Wechselspiel zwischen den Figuren und den einzelnen Erzählsträngen ausgesprochen gut, denn obwohl dieses Buch zunächst ein wenig undurchsichtig erscheint, ist es letztendlich ein echtes Erlebnis, dieses Buch zu lesen, da es an einen Film erinnert.
Praktisch ständig glaubt man, dass man ein Gespür für die Patientin entwickelt hat, während man Theo über die Schulter schaut, an ihren Sitzungen teilnimmt. Und dann wiederum hat man das Gefühl alles Dagewesene über den Haufen werfen zu können, weil es in der nächsten Szene wieder ganz anders erscheint.
Stilistisches
Wer sich die Autorenbiografie von Alex Michaelides anschaut, der findet schnell den Bezug zwischen seiner Biografie und der Figur des Theo Fabers. Dennoch ist der Autor nicht mit den Protagonisten übereinzubringen. Es handelt sich bei Ersterem um einen Menschen bei letzterem um eine Figur. Die beiden sind nicht identisch und werden es auch nicht.
Dennoch ist natürlich auffällig, dass Alex Michaelides ebenso als Psychotherapeut tätig war, wie seine Hauptfigur Theo. Auffällig ist aber nicht etwa, dass er auf Erlebnisse aus seiner eigenen Arbeit zurückgreift, sondern viel eher das fundierte Fachwissen, das diesen Thriller so speziell erscheinen lässt.
Alex Michaelides arbeitet Hintergrund- und Fachwissen aus seiner eigenen Erfahrung ein, die Geschichte selbst ist aber frei erfunden. Dennoch macht es natürlich etwas aus, wenn man selbst als Autor über das nötige Fachwissen verfügt, weil man jahrelang mit diesem Thema vertraut war.
Meiner Meinung nach kann man sich vieles in der Theorie aneignen und es doch im praktischen Alltag nicht anzuwenden wissen. Theorie und Praxis bilden in der Regel zwei unterschiedliche Säulen. In diesem ungewöhnlichen Psychothriller verbindet der Autor jedoch sein Wissen aus der Praxis mit einer fiktiven Handlung und schafft es somit eine so intensive, wie eindringliche Geschichte zu erzählen, dass es für den Leser wirkt, als wäre er selbst dabei gewesen.
Wie wahrscheinlich viele von euch, sage ich, dass ein guter Psychothriller sich nicht unbedingt durch viele brutale Gewaltszenen auszeichnet, vielmehr sollte es einem Psychothriller um Einblicke in die Seele der Beteiligten gehen. Genau dieser Aspekt ist dem Autor hier gelungen, denn er kommt weitestgehend ohne viel Blutvergießen aus.
Genau genommen erinnere ich mich nach dem Lesen dieses Buches an keine einzige Szene, in der Gewalt wirklich dargestellt wurde. Dennoch ist dieses Buch alles andere als ein weichgespülter unterhaltender Kriminalroman.
Gerade aufgrund der fehlenden Gewalt fordert es die volle Konzentration eines Lesers. Praktisch in jedem Moment hat man das Gefühl, dass man etwas verpassen könnte, sobald man unkonzentriert ist und über das Ende wundert man sich letzten Endes dann doch.
Die Geschichte in der Geschichte: eine Legende der griechischen Mythologie
Betrachte ich nun einzelne Aspekte der Handlung genauer, so muss erwähnt werden, dass es auch noch eine Geschichte in der Geschichte gibt, denn Michaelides nimmt Bezug auf die griechische Mythologie und lässt seine Geschichte parallel zu einer Legende laufen, die zur großen Mythologie der Griechen gehört.
Alkestis stellt nämlich nicht nur den Namen für das Bild bereit, welches Alicia nach dem grausamen Tod ihres Mannes malte, sondern wirkt auch eine gewisse Parallelität. Wie genau und worum es sich handelt, ist schwierig in wenigen Worten zu erklären, aber ich glaube, dass jeder Leser und jede Leserin, der zu diesem Buch greift, sich damit beschäftigen muss, diese Parallelen zu erkennen. Denn auch in der griechischen Mythologie gab es eine stumme Figur, Alkestis.
Über den Autor Alex Michaelides
„Der Brite Alex Michaelides wurde 1977 in Zypern geboren. Er studierte in Cambridge und Los Angeles und schreibt höchst erfolgreiche Drehbücher, u.a. die Vorlagen für die Kinofilme »The devil you know« oder »The Brits are Coming« mit Stars wie Uma Thurman, Tim Roth, Sofia Vergara und Stephen Fry. Alex Michaelides hat einige Monate in einer psychiatrischen Klinik für Jugendliche gearbeitet. »Die stumme Patientin« ist sein erster Roman.“(Droemer Knaur)
Fazit
Bei einem Psychothriller hoffe ich immer darauf, dass es intelligente und unerwartete Wechselwirkungen gibt, die dem Buch den einen oder anderen Dreh verleihen, und so immer und immer wieder für neue Spannungselemente sorgen, die es mir als Leser aber auch unmöglich machen, einen Täter zu früh zu entlarven.
Bei diesem Buch erscheint nun einiges anders, aber dennoch kann ich sagen, dass mich „Die stumme Patientin“ von Alex Michaelides eines ums andere Mal überraschen konnte. Etwas, das in der Vergangenheit nur wenigen Büchern und Hörbüchern gelungen ist.
Würde ich euch dieses Buch nun empfehlen? Ja, auf jeden Fall ist dieser Psychothriller nicht nur lesenswert, sondern ein Highlight.
Im Rahmen dieser Rezension habe ich euch bereits geschrieben, dass es mich aufgrund der szenischen Darstellung in Teilen sowohl an ein Kammerspiel als auch an einen Film erinnert, den man meiner Meinung nach zur besten Sendezeit ausstrahlen könnte.
Dennoch ist anzumerken, dass es nicht die starken Bilder sind, die „Die stumme Patientin“ von Alex Michaelides zu etwas Besonderem machen, vielmehr sind es die Verknüpfungen, die dahingehend ungewöhnlich sind. Alex Michaelides schafft Verbindungen, auf die man selbst möglicherweise nicht kommen würde und schafft es somit, seine Leser stets zu überraschen.