„Die Scham“ von Annie Ernaux muss man als Autobiografie mit sehr starken Grenzen betrachten, denn Annie Ernaux schildert in diesem Buch ein persönliches Erlebnis, dass ihre eigene Kindheit und eigentlich ihre gesamte Biografie prägen sollte. Normalerweise lese ich keine Autobiografien, da ich der Meinung bin, dass man das Leben eines anderen Menschen nicht bewerten sollte.
Worum geht es in „Die Scham“ von Annie Ernaux?
Für dieses Buch habe ich jedoch eine Ausnahme gemacht, denn dieser biografische Auszug aus dem Leben der Autorin ist derart prägend, aber auch schockierend, dass ich neugierig wurde.
Im Jahr 1952 beobachtet die damals zwölfjährige Annie wie ihr Vater ihre Mutter beinahe tötet. Sie kann diese Szene nicht wirklich einordnen und ist außerdem außerstande, sich Hilfe bei der Bewertung und Verarbeitung dieser Situation zu holen.
Annie ist zu jener Zeit ein junges Mädchen. Sie besucht eine religiös geprägte Mädchenschule und wird streng im Glauben erzogen. Sie weiß, dass sie die gesellschaftlichen Normen einhalten sollte, wenn ihre Familie den Aufstieg schaffen möchte.
Bis zu diesem Ereignis war alles irgendwie vorherbestimmt, doch dieses Ereignis wirft sie – nicht nur was ihren Glauben angeht -völlig aus der Bahn, stattdessen scheint danach alles irgendwie anders zu sein.
„Die Scham“ von Annie Ernaux: ein Leben voller Zweifel, Scham und dem Gefühl, niemals gut genug zu sein
Deutlich wird bei diesem biografischen Werk der Autorin auf jeden Fall, dass sie erst sehr spät und im Rückblick gelernt hat, mit den Ereignissen aus ihrer Kindheit umzugehen. Vielmehr liegen die Gefühle, die sie empfindet, irgendwo zwischen Selbstzweifel, Scham und dem Gefühl, niemals gut genug zu sein.
„Die Scham“ von Annie Ernaux ist dabei nicht das erste Buch, das diese Autoren über ihre eigene Biografie verfasst hat. Vielmehr ist es das mittlerweile vierte Buch, welches die 1940 geborene Annie Ernaux über ihre Biografie und ihre Familiengeschichte verfasst hat.
Für mich als Leserin, die die vorangegangenen Teile dieser Familiengeschichte nicht kennt, ist es damit schwierig zu sagen oder gar einzuordnen, mit welcher Motivation Annie Ernaux ihre Geschichte öffentlich erzählt.
Darüber hinaus möchte ich nicht hinterfragen, welche Erlebnisse neben dem bereits erwähnten Versuch des Vaters, die Mutter umzubringen, dazu führten, dass sie ihre eigene Familiengeschichte in Form von biografischen Romanen erzählt.
Fakt ist aber, dass es bei diesem Buch wohl ganz ähnlich war wie bei allen vorangegangenen. Annie Ernaux muss demnach von einem inneren Gefühl getrieben worden sein.
Auch wenn ich nicht mit Sicherheit sagen kann, was die Motivation dieser Bücher ist, glaube ich, dass diese Art über ihre Kindheit zu berichten, Annie Ernaux dabei unterstützt hat, ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten.
„Die Scham“ von Annie Ernaux: Familiengeschichte und Gesellschaftskritik
Müsste ich diesen Auszug einer Biografie einordnen, so wäre er für mich keinesfalls nur eine autobiografische Betrachtung einer Familiengeschichte, sondern gleichwohl auch eine Gesellschaftskritik. Schließlich übt Annie Ernaux Kritik an der Gesellschaft, die sie als Kind erlebt hat.
Sie zeigt auf, welche Formen der Erziehung sie durch ihre privilegierte Stellung, die aber keinesfalls nur privilegiert war, erhalten hat. Sie war Schülerin eines religiös geprägten Mädchenpensionats, besuchte dieses aber als Externe. Mit dem Besuch dieser privaten Schule gingen aber gewisse Erwartungen und Verpflichtungen einher.
Vieles von dem, was Annie in ihrer Kindheit und Jugend erlebt, dient allein dem Zweck, eine gewisse Fassade aufrecht zu erhalten. Genau dies ist auch der Grund, warum sie sich nach den Ereignissen mit ihren Eltern keine Hilfe holen kann und mit niemandem über ihre ganz persönlichen Ängste und Emotionen sprechen kann.
„Die Scham“ von Annie Ernaux: ein hochemotionales Buch, das psychologische Einblicke bietet
Tatsächlich handelt es sich bei „Die Scham“ von Annie Ernaux um eine biografische Darstellung, die sowohl tiefe Emotionen zeigt, als auch psychologische Einblicke in die Seele der jungen Annie offenbart. Trotzdem ist dieses Buch kein Tagebuch, vielmehr erzählt die Autorin die Ereignisse von einst nicht aus ihrer eigenen Sicht, sondern so als ob sie über jemand anderen berichten würde. Annie Ernaux erzählt dabei allerdings ihre ganz eigene Geschichte.
Wer sich einmal mit dem Buch „Das Kind in Dir muss Heimat finden“ beschäftigt hat, der weiß, dass Annie Ernaux mit dieser Form der Darstellung Abstand von der kindlichen Perspektive nimmt und als Erwachsene zurückblickt auf ihre damalige Situation. Sie will das Kind von einst von der Last befreien, damit sie die Situation heute nicht mehr als belastend empfindet. So zumindest würde ich ihre Motivation, diese Bücher zu schreiben, einschätzen.
„Die Scham“ von Annie Ernaux: sprachlich und vom Setting eher für ältere Leserinnen
Ich muss bei „Die Scham“ von Annie Ernaux anmerken, dass es mich sprachlich wie emotional vor die Herausforderung stellte, mich in die Situation der 1950er Jahre hinein zu denken. Ich selbst habe in den fünfziger Jahren ja noch nicht gelebt, kann also nur auf das Wissen zurückgreifen, was mir selbst über diese Zeit erzählt wurde. Gleichzeitig entsetzt mich aber die Erfahrung, die Annie aufgrund dieser Zeiten und ihrer damaligen Erziehung machen musste.
Aus genau diesem Grund würde ich es eher älteren Leserinnen empfehlen, allerdings können auch jüngere Leserinnen und Leser durchaus von diesem Buch profitieren. Denn auf Basis der, in diesem Buch enthaltenen, Gesellschaftskritik bekommt man einen ganz anderen Einblick in die damalige Zeit.
Dass diese Einblicke sehr wertvoll sein können, zeigt sich, wenn man sich die Frage stellt, wie unterschiedlich sich die Erziehung in den unterschiedlichen Zeiten darstellt. Tatsächlich sind wir heute moderne Frauen, die selber darüber entscheiden können, wen wir heiraten, was wir beruflich machen wollen und generell, in welche Richtung sich unser Leben bewegt.
Annie Ernaux „Die Scham“ : ein Kontrast im Vergleich zur heutigen Zeit
Mache ich mir als Leserin also die Mühe, die Unterschiede zwischen der heutigen und der damaligen Zeit herauszuarbeiten, so fallen mir einige drastische Unterschiede auf. Diese lassen das Buch einerseits spannend, aber andererseits, zumindest in Teilen, auch ein wenig anstrengend erscheinen.
Auch „Die Scham“ von Annie Ernaux ist kein Buch, das unterhalten möchte und ähnelt in diesem Punkt sicher auch einem Buch wie „Der letzte Satz“ von Robert Seethaler. Dennoch hat es seinen ganz eigenen Charakter und eine ganz andere Stimmung.
Über die Autorin Annie Ernaux
„Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden.“(Suhrkamp)
Fazit zu „Die Scham“ von Annie Ernaux
Ich muss sagen, dass ich bei diesem Buch durchaus eine gewisse Skepsis habe walten lassen, denn, wie schon gesagt, bewerte ich normalerweise sehr selten Autobiografien. Im Fall von Annie Ernaux habe ich bewusst eine Ausnahme zugelassen, weil mich die Geschichte, die die Autorin aus ihrem eigenen Leben erzählt, neugierig machte.
Tatsächlich bin ich froh darüber, diese Ausnahmen gemacht zu haben, denn Annie Ernaux Geschichte ist die Geschichte einer Frau, die möglicherweise typisch für die 1950er Jahre ist. Damit meine ich nicht unbedingt, dass es typisch sei, dass der Vater versucht hat, die Mutter zu töten. Dieses glaube ich nicht.
Es ist vielmehr eine Zuspitzung der Ereignisse, die sich zwar in Ihrem Fall so zugetragen haben, aber in anderen Familien möglicherweise in milderen Formen vorlagen. Ja, die Ereignisse der damaligen Zeit, die die Autorin in diesem Buch erzählt, sind erschütternd und genau deshalb auch anstrengend.
Trotzdem oder gerade deshalb würde ich dieses Buch empfehlen. Selbst wenn man die vorangegangenen ebenfalls biografischen Bücher nicht gelesen hat. Man kann mit diesem vergleichsweise kurzen Auszug aus Ernaux Biografie eine Menge über die Gesellschaft der 1950er Jahre und ihre Betrachtung erfahren.
In diesen Zeiten ist es nicht unbedingt üblich, von Zeitzeugen zu sprechen, aber meiner Meinung nach zeigen Bücher dieser Art, dass Zeitzeugen aus allen Zeiten wichtig sind und, dass man ihre Erinnerung und ihre Biografien festhalten sollte.