Als ich „Träume bleiben ohne Reue“ von Victoria Suffrage entdeckte, dachte ich mir zunächst, dass diese Geschichte einfach nur ungewöhnlich ist. Das war der erste Grund, warum ich dieses Buch unbedingt lesen wollte, denn es ist fernab von allem, was wir unter „Mainstream“ verstehen. Dennoch zog mich alleine der Klappentext der Geschichte schon in seinen Bann.
Ungewöhnliche Protagonistin, starke Handlung
Mit Edda hat Victoria Suffrage nicht nur eine überaus starke und unerwartete Protagonistin geschaffen, sondern eine, die man sich zum Vorbild nehmen könnte, nicht wegen ihrer Lebensführung, auch nicht aufgrund ihrer zynischen Charaktere oder ihrem Umgang mit Menschen, sondern einfach, weil sie die Stärke besitzt, ihr Leben auch dann in die Hand zu nehmen, wenn es eigentlich unmöglich ist.
Die überaus ernsthafte Thematik des Buches wird dabei durch Edda weder beschönigend noch irgendwie ins Lächerliche gezogen und ist doch gleichzeitig aufgrund seiner lebhaften Darstellung überaus humorvoll. Mit scheinbarer Leichtigkeit gelingt es der Protagonistin dabei, über den schwierigsten Teil in ihrem Leben zu berichten. Die Autorin gelingt dies auf den ersten Blick ebenfalls sehr simpel und doch glaube ich, dass diese Geschichte eine unheimlich starke Entwicklung durchlaufen hat, während sie entstand.
Edda, die in ein Altersheim zieht, weil sie aufgrund ihrer ALS Diagnose ein schnelles Verschlechtern befürchtet und auf Hilfe angewiesen sein wird, möchte ihr Lebensende gerne selbst gestalten. Sie möchte entscheiden, wann sie stirbt, denn die ALS Diagnose bedeutet für Edda nichts anderes als ein dahinvegetieren und das möchte sie nicht erleben. Gleichzeitig ist ihr bewusst, dass sie nicht von vornherein dahinvegetieren wird, sondern dass es ein langsamer, ein schleichender Prozess ist und sie immer weniger selbständig können wird. Völlig reflektiert aber wenig auf die Situation vorbereitet, entschließt sie sich also, in ein Altersheim einzuziehen.
Was wir fortan erleben, ist also eigentlich das, was jeder in einem normalen Altersheim erleben kann und dennoch ist es natürlich rein fiktiv, denn Eddas Erlebnisse sind individuell und Edda war in ihrem früheren Leben Puffmutter und als solche nicht nur selbstbewusst und pragmatisch, sondern eben auch bissig, scharfsinnig und einiges mehr. Auch in ihrer jetzigen Situation nimmt sie kein Blatt vor den Mund.
Rückblick auf ein vergangenes Leben, Ausblick auf den nahenden Tod
In „Träume bleiben ohne Reue“ erzählt Victoria Suffrage also sowohl eine Lebensgeschichte über ein sehr lebendiges Leben als auch die Sterbensgeschichte einer Frau, die stets für sich selbst entschied.
„Edda, schnodderige Ex-Puffmutter, lebt im Altenheim und pflegt ihr Image als Scheusal. Darin wird sie bestärkt, als sie die tödliche Diagnose ALS erhält. Innerlich beginnt Edda sofort, ihren Abgang zu planen. Wilma, Eddas neue Mitbewohnerin, begegnet deren Gehässigkeit mit Herzlichkeit. Nach Anfangsschwierigkeiten erklärt sich Wilma sogar bereit, Edda bei ihrem Abgang mithilfe der „Beklopptengang“ zu unterstützen. Der Altenpflegeschüler Vincent nennt sie „mon général“, wühlt unerlaubt in Schränken, die Schülerin Laura hat auf nichts Bock und schleudert das Jesuskind an die Wand. Und was wollen der Herrgott in Eddas Badezimmer und der schwarze Vogel auf dem Fensterbrett?“ (Klappentext)
Stilistisch passend
Victoria Suffrage ist es gelungen, sich stilistisch den einzelnen Figuren anzunehmen und ihnen somit eine verbindliche Sprache zu geben. Jede einzelne Figur lässt sich somit in einem Dialog auch anhand ihrer Sprache wiedererkennen, die Handlungen kann man sich gut vorstellen und dennoch sind sie so, dass sie in jedem Altenheim oder einer vergleichbaren Einrichtung stattfinden könnten. Edda und ihre Gang bieten eine Identifikation an. Jeder könnte sich hier wiederfinden und sich die Geschichte zum Anlass nehmen, um einmal darüber nachzudenken, wie es eigentlich ist, wenn man älter wird.
Nicht nur Identifikation, sondern auch Rollenvorbild
Wer bin ich, wenn ich Senior bin? Wie möchte ich leben, wenn ich auf Hilfe angewiesen bin? Mit all diesen Fragen sollte man sich als Mensch einmal beschäftigen, bevor es soweit ist. Mit diesem Thema habe ich mich auch im Rahmen der Aktion zum Buch auseinandergesetzt. Auch Victoria Suffrage hat sich als Autorin wahrscheinlich in mehrfacher Hinsicht mit diesen Fragen beschäftigt, zum einen dürfte sie sich als Person damit beschäftigt haben, zum anderen aber auch für jede einzelne Figur.
Über die Autorin Victoria Suffrage
„Victoria Suffrage schreibt seit vielen Jahren, hat aber erst 2013 den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt und den Erzählband „Mein wundervolles Pariser Mädchen“ veröffentlicht. Ein Jahr später erschien der Roman „Das Murmelglas“, den sie gemeinsam mit Enya Kummer geschrieben hat. Wer sich auf Geschichten von Victoria Suffrage einlässt, sollte wissen, dass er keine Heile-Welt-Lektüre vorfindet. Aber – es sind keine Geschichten, die von Ausweglosigkeit erzählen. Einmal in die nachdenkliche, manchmal auch melancholische Welt der Autorin eingetaucht, wird der aufmerksame Leser ob des hohen Wiedererkennungswertes auch Trost in diesen sorgfältig erzählten und komponierten Geschichten finden.
Mit dem Kinderbuch „Die Abenteuer von Stups und Moni – Wenn freche Wölfe Nebel pupsen“ hat sich Victoria Suffrage, wieder gemeinsam mit Enya Kummer, in ein neues Genre gewagt. Es erschien im März 2015.
Der Roman „… also nachm Regenbogen um sechs Uhr abends“ wurde für den 1. Deutschen Selfpublishing-Preis 2017 nominiert.“ (Über die Autorin)
Fazit
Dieses Buch als ungewöhnlich zu beschreiben, wird ihm sicherlich nicht gerecht, denn dieses Buch ist eine gelungene Mischung aus schwarzen Humor, Zynismus, Sarkasmus sowie auch alltäglicher Realität. Nein, dieses Buch ist fiktiv, aber es ist eben auch Teil unseres echten Lebens.
Jeder von uns wird älter, wird vielleicht irgendwann einmal in seinem Leben auf Hilfe angewiesen sein – der eine früher, der andere später. Dieses Buch bietet die Chance, sich das erste Mal mit dem Thema zu beschäftigen und ist aus diesem Grund etwas ganz Besonderes.