Als ich „Coco Chanel“ von Nadine Sieger las, wurde mir schnell klar, dass dieses Buch einige Fragen aufwarf, denn wie man sich mit einer so widersprüchlichen Person auf diese intensive Art auseinandersetzen kann, zeigt mir das Buch leider nicht.
Also freute ich mich, als Nadine Sieger zustimmte, mir einige Fragen zu beantworten. Im Folgenden lest ihr nun mein Interview mit Nadine Sieger über ihr Leben in New York (worüber sie auch ein Buch geschrieben hat) und was ihr das „Coco Chanel“-Projekt bedeutete.
Coco Chanel ist eine komplexe Frau, deren Charakter sehr widerspruchsreich ist. Wie nähert man sich dieser Person im Rahmen einer Recherche für ein eigenes Buch an?
Nadine Sieger: Ja, so widersprüchlich wie die Person sind teilweise auch die Aussagen verschiedenster Quellen, die natürlich oft durch ihre subjektive Wahrnehmung eingefärbt sind. Deshalb habe ich mich erstmal monatelang durch so viele Biografien, Interviews, Dokumentationen und Filme wie möglich getastet, Sichtweisen, Fakten und Ereignisse abgeglichen und auf den größten gemeinsamen Nenner gebracht. Ich habe alles chronologisch gesammelt, strukturiert und erst danach entschieden, welchen Weg mein Buch einschlägt.
Glücklicherweise gab es auch einige fundierte Artikel in den Archiven des New Yorkers, der New York Times und der Vogue, anhand derer ich Eindrücke, Fakten und Daten prüfen konnte. Je intensiver man sich mit einem Mensch auseinandersetzt und je näher man ihm kommt, umso größer ist natürlich die Gefahr, im Laufe des Schreibens selbst die objektive Distanz zu verlieren.
Deshalb musste ich meine eigene Perspektive zwischendurch immer mal wieder in Frage stellen und bewusst entscheiden, wie ich Coco Chanel eigentlich darstellen möchte.
Alle Facetten einer Person erfassen ist leider unmöglich, aber ich habe immer wieder ganz bewusst Szenen und Ereignisse ausgewählt, die hoffentlich so viele unterschiedliche Wesenszüge und Charaktereigenschaften wie möglich von dem Menschen Coco Chanel einfangen.
Coco selbst entwickelte einige Legenden über ihr Leben und versuchte auf diese Weise ihre Herkunft zu verschleiern. Was bedeutete dieser Umstand für Ihre Recherche?
Nadine Sieger: Es bedeutete, dass man einige von Coco Chanels Zitaten eher mit Vorsicht betrachten musste. Allerdings ist ihr gesamtes Leben seit ihrem Tod von allen Seiten beleuchtet und recherchiert worden. Die ganz groben Wirklichkeitsverdrehungen sind mittlerweile alle aufgedeckt und öffentlich bekannt.
Vor allem, was ihre Herkunft betrifft, aber zum Beispiel auch ihre moralischen Abwege, wie Ihre Beziehung zu den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg und die Liaison mit dem SS-Mitglied Walter Schallenberg.
Wenn Sie die Gelegenheit hätten, als Journalistin ein Interview mit Coco Chanel zu führen. Welche Fragen wären für Sie nach Ihrer Recherche noch offen?
Nadine Sieger: Endlos viele! Da sind natürlich die ultimativen Fragen, ob sie im Rückblick irgendwelche Lebensentscheidungen anders getroffen hätte, ob sie etwas bereut, worauf sie am stolzesten war, wen sie von den vielen unterschiedlichen Männern in ihrem Leben wirklich geliebt hat und wann sie wieso am glücklichsten war. Mich hätte auch brennend interessiert, ob ihr Neffe tatsächlich, wie Gerüchte behauptet haben, ihr Sohn war.
Coco selbst war aufgrund einiger Auftragsarbeiten in den USA zu Gast. Sie mochte es aber nicht. Können Sie sich vorstellen, was ihr damals nicht gefiel und was sich seitdem verändert hat?
Nadine Sieger: Schwer zu sagen, aber ich glaube, dieses Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen könnte sich heute wiederholen. Natürlich haben sich die Zeiten auf beiden Seiten des Atlantiks geändert und Celebrities sind für das Marketing jedes Modelabels wichtiger denn je geworden.
Was Karl Lagerfeld bei Chanel ja auch mit Leidenschaft zelebriert hat. Aber einige typische Hollywood-Klischees bestehen sicher immer noch. Eine gewisse Oberflächlichkeit, das Bedürfnis mit Ruhm und Erfolg zu prahlen, seinen Reichtum laut zur Schau zu stellen, et cetera (a la Kardashians), all das hat ihr vermutlich damals missfallen.
Die geistige und kulturelle Tiefe, die Coco Chanel soviel bedeutet haben, hat sie dort nicht gefunden. Ich würde aber behaupten, dass sich das eher auf Los Angeles und ihre Arbeit in Hollywood bezogen hat, als auf New York.
Und man darf an dieser Stelle auch nicht vergessen, dass sie Amerika ihr erfolgreiches Comeback zu verdanken hatte. Das Land hat maßgeblich dazu beigetragen und sowohl die US-Presse als auch Kunden haben sie begeistert zurück empfangen, während die Franzosen noch damit beschäftigt waren, ihre Comeback-Entwürfe vernichtend zu kritisieren. Vermutlich immer noch beleidigt über die verwerfliche Rolle, die sie im Zweiten Weltkrieg spielte.
Eigentlich wollten Sie selbst höchstens ein Jahr bleiben, aber mittlerweile leben Sie schon seit 16 Jahren in New York. Hat sich seit der Veröffentlichung Ihres Buches „Ein Jahr in New York -Auswandern auf Zeit“ ihr Blick auf die Stadt noch einmal gewandelt?
Nadine Sieger: Ja, auf jeden Fall. Das ist wie mit jeder innigen Beziehung, die anfängliche Euphorie und die Aufgeregtheit lösen sich nach und nach in tiefe Verbundenheit auf. Was natürlich auch dazu führt, dass man die anstrengenden Seiten der Stadt wesentlich klarer sieht (der ständige Lärm, die Menschenmassen, das konstante Tempo, die ansteigenden Preise, et cetera).
Diese Extreme sind natürlich auch gleichzeitig wichtiger Treibstoff und Teil der Anziehungskraft. Aber es ist nicht nur mein Blick, der sich gewandelt hat, sondern auch die Stadt selbst. Seit meiner Ankunft ist schon so manches geliebte Stück New York verschwunden. Leider.
Aber: So war es schon immer und so wird es immer sein. Denn die Stadt macht unbeirrt Platz für Neues. Und das kreative Potential, das Talent, die Vielfalt und die Möglichkeiten auf engstem Raum in New York sind natürlich immer noch endlos. Man hört nie auf, Neues zu entdecken und spannende Menschen zu treffen.
Sie werden es nicht glauben, aber so habe ich erst kürzlich eine ältere Dame kennen gelernt, die mich zum Essen einlud und mir dann zufällig erzählte, dass sie in den Fünfziger Jahren in Paris für Coco Chanel Model gestanden hat! So etwas passiert einem nicht überall!
Und auch wenn mich diese Glücksgefühle nicht mehr so regelmäßig und willkürlich wie am Anfang erfassen, gibt es immer noch Momente wie diese bewegende Begegnung oder beim 360-Grad-Ausblick aus dem 100. Stock des über 540 Meter hohen neuen World Trade Centers, in denen mich eine Gänsehaut überkommt.
Viele Menschen spielen mit dem Gedanken auszuwandern. Welchen Rat würden Sie Menschen geben, die mit diesem Gedanken spielen?
Nadine Sieger: Sich mit offenem Herzen, endloser Neugier und Begeisterung auf alles einzulassen und alles mitzunehmen, was dieser neue Ort zu bieten hat. In der Fremde besteht auf jeden Fall eine natürliche Anziehungskraft nach Vertrautem und letztendlich ist es natürlich Schicksal, welchen Menschen man begegnet und wer einem ans Herz wächst.
Aber: Es ist viel spannender und bereichernder, mit Haut und Haaren in eine ganz andere Kultur und Mentalität abzutauchen. Deshalb sollte man versuchen, sich in der Ferne nicht nur von anderen Deutschen zu umgeben.
Sie nutzen für Ihre Recherchen mit Vorliebe das Fahrrad und fahren damit durch Manhattan. In Deutschland wird aktuell wieder einmal die Einführung der Helmpflicht diskutiert. Viele Frauen verzichten gerne auf den Helm und ihre Frisuren nicht zu zerstören. Tragen Sie einen Fahrradhelm um sich im turbulenten und verkehrsreichen New York vor Verletzungen zu schützen? Warum (nicht)?
Nadine Sieger: Ich muss leider zugeben, dass ich auch keinen Helm trage. Das ist vermutlich grob fahrlässig und lebensmüde, aber für mich ist Radfahren wie Laufen. Das hat nichts mit Eitelkeit (also meiner Frisur) zu tun, aber ich fahre Rad, seitdem ich denken kann.
Und es gibt hier mittlerweile so viele abgesicherte Fahrradwege, dass das Unfallrisiko vermutlich nicht höher ist als in jeder deutschen Großstadt (wie Hamburg, et cetera). Letztendlich gibt es jedoch keine sinnvolle Rechtfertigung. Ich sollte mir auf jeden Fall einen Helm zu legen.
Vielen Dank für Ihre Zeit. Erlauben sie mir einige letzte Fragen: Schreiben Sie bereits an einem neuen Buch? Worauf dürfen wir uns freuen?
Nadine Sieger: Erfreulicherweise hat mich der Herder Verlag schon gefragt, ob ich Interesse habe, ein weiteres Buch für dieselbe Serie zu schreiben. Ich hätte wahnsinnig große Lust, aber ich muss gestehen, dass ich erstmal eine Weile Luft holen muss, bevor ich mich wieder jedes Wochenende (da ich Mo-Fr für die ELLE im Einsatz bin) in das Leben einer faszinierenden und einnehmenden Frau stürze.